Pflicht und Kür
das heißt einer beflissenen Berücksichtigung von Wahrheit, Objektivität und Genauigkeit, achten. Mit diesen Generaltugenden im Blick, gepaart mit einer guten Portion Fleiß und natürlich einer entsprechenden Ausdauer, sollte sich die Pflicht einer Abschlussarbeit, mit der man den Nachweis erbringt, die elementaren Kulturtechniken zu beherrschen, ohne größere Schwierigkeiten bewältigen lassen. Zumal man damit vorführt, in der Lage zu sein, ohne fremde Hilfe eine Argumentation zu entwickeln, die eine analytische Durchdringung und intensive Auseinandersetzung mit einer geisteswissenschaftlichen
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Problemstellung erkennen lässt. So viel zur Pflicht. Die Kür allerdings setzt noch ein wenig mehr voraus, Originalität zum Beispiel. Denn womöglich ist Ihnen nicht nur an der Pflichtübung, sondern auch noch an einem überzeugenden Auftritt und dem damit verbundenen intellektuellen Glanz gelegen: Denn erst damit stellen Sie unter Beweis, dass Sie nicht nur die grundlegenden Standards beherrschen, sondern ein ambitionierteres Ziel verfolgen, indem Sie eigenständig einen originellen Gedankengang entwickeln, der nicht nur eine Paraphrase des Altbekannten bietet, sondern forschungstechnisches Neuland erschließt und zudem noch ebenso eingängig wie einleuchtend geschrieben ist.
Entscheidend ist dabei, sowohl eine tragfähige Idee als auch eine neue Argumentation zu entwickeln. Zur Kultivierung dessen lassen sich ein paar Tipps berücksichtigen (siehe Schritt 1, S. 15), sodass sich Ihr Text nicht bloß durch das Wiederkäuen längst bekannter Tatsachen (eben nicht:) auszeichnet.
Originalität?
Denn eine noch so akkurate Wiedergabe dessen, was bereits in der Sekundärliteratur steht, kann man keinesfalls als eigenständige Forschungsleistung werten. Stattdessen gilt es, Ihren Text als einen Beitrag zur Mehrung des Wissens zu konzipieren, indem Sie tatsächlich etwas Neues beschreiben. – Und wie kann man nun den Originalitätsgrad abschätzen? Allen voran dadurch, dass Sie sich mit der Historie ihres Themas und auch den Fragetraditionen der zugehörigen Disziplin vertraut machen. Ohne genaue Kenntnis des Vorhandenen lässt sich nichts Neues schaffen. Im Fall der vorliegenden Problemstellung, wie man eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreibt, gälte es also beispielsweise, nicht allein aus Theorie und Praxis zu berichten, sondern auch einen Seitenblick darauf zu verwenden, wie diese Fragen in der Vergangenheit behandelt worden sind. Aus diesem Grund finden sich im weiteren Verlauf dieser Darstellung gelegentlich Zitate eingeschaltet, vorzugsweise aus einem der ersten wissenschaftlichen Ratgeber dieser Art von Leopold Fonck, der bereits vor gut 100 Jahren wesentliche Punkte herausgearbeitet hat, auf die es beim Verfassen einer Abschlussarbeit (immer noch) ankommt. Vor einem solchen historischen Hintergrund lässt sich sowohl in diesem Fall als auch in Ihrer eigenen Geschichte sodann klarer erkennen, ob Ihre Überlegungen und Antworten auf die Problemstellung eher schöpferisch, das heißt mit Neuigkeitswert, oder
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aber lediglich als Wiederholung des Altbekannten einzustufen sind. Und schließlich bleibt nicht zu vergessen: Es kommt auch darauf an, in welche Art der Geschichtsschreibung Sie Ihre Geschichte einkleiden, das heißt, die Narration, der Stil, der Einfallsreichtum, die Spannungskurve und die Sprachsensitivität Ihrer Darstellung entscheiden ebenfalls über den Grad der Originalität Ihrer Überlegungen.
Vor Ihnen liegt nun eine längere Phase am heimischen Schreibtisch oder aber, je nach Vorliebe, an einem geeigneten Arbeitsplatz in der Bibliothek, im Park oder einem Café. Damit befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Zahllose Gelehrte arbeiten wie Sie,
Ungestört(-heit) schaffen
jetzt in diesem Augenblick und in früheren Zeiten. Gelehrsamkeit benötigt jedoch immer eine bestimmte Form der Ungestörtheit, um sich richtig vertiefen zu können. Minimieren Sie daher möglichst alle Ablenkungen. Mobiltelefon auf stumm schalten, Internet nur zur Recherche aktivieren, und für die täglichen Arbeitsphasen sollten Sie darauf achten, dass nichts und niemand Sie stören kann. Schon hat man sich eine Umgebung geschaffen, die sich nicht viel anders anfühlt als jene, die der frühneuzeitliche Gelehrte zu Hause, zum Beispiel Erasmus von Rotterdam 1528, zur gesteigerten Schaffenskraft empfahl: Seit „jeher haben berühmte Männer die Stille gesucht, wenn sie ein Werk der Unsterblichkeit schaffen wollten. […] Ich habe eine Studierstube im hintersten Winkel meines Hauses, mit dicken Mauern, doppelten Türen und Fenstern, alle Ritzen sind sorgfältig mit Gips und Pech verstopft, so daß selbst unter Tags kaum ein Lichtstrahl eindringen kann, und auch kein Laut, wenn er nicht besonders penetrant ist, wie etwa das Geschrei zankender Weiber oder der Krach, den die Handwerker machen.“ 2 Wenden Sie also alle möglichen oder historisch bewährten Taktiken an, um Ihre Sinne ganz auf das LSD zu konzentrieren.
Wie überall wird auch der Schreibprozess selbst neben den willkommenen Hoch- auch einige Tiefphasen bereithalten. Jenseits des persönlichen Biorhythmus liegt das zumeist daran, dass den allermeisten Menschen Schreiben eine (kleine) Qual bedeutet, zumindest in dem jeweiligen Moment, wenn sie es ausüben. Oftmals realisiert man
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jedoch erst rückblickend, wie viel Freude und Genugtuung selbst in den quälerischen Augenblicken diese Tätigkeit eigentlich bereitet hat.
Lob der Ausdauer
Das Wichtigste in jenen Momenten, wenn es eher zäh als liquide läuft, besteht darin, eine gewisse Ausdauer aufzubieten, um den Augenblick des Zweifels zu überstehen. Der Vergleich zum Sport liegt dabei nahe: Man könnte beispielsweise an den Iron Man im Triathlon denken, wo nach 3,86 km Schwimmen und einer Radtour von 180,2 km noch ein Marathonlauf wartet – nota bene, alles an einem Tag, und möglichst unter acht Stunden. Vor allem aber sollte man nie an Jürgen Hingsen denken,3 der sich 1988 bei den Olympischen Spielen in Seoul infolge seiner Ungeduld mit offiziell drei Fehlstarts bereits beim 100 m-Lauf für den Rest seines Zehnkampfs disqualifizierte.
Abschließend noch zwei (Nach-)Sätze, zum einen zum idealen Leser dieses Texts, zum anderen zum richtigen Zeitpunkt der Lektüre. Wenn Sie bereits mittendrin sind in Ihrer Arbeit, kommt die Lektüre dieses Buchs strenggenommen schon zu spät.
Bester Zeitpunkt dieser Lektüre: Vorher!
Man könnte überlegen, das Buch an jemanden zu verschenken, der die Ausarbeitung noch vor sich hat. Oder aber Sie blättern gleich zu den Seiten, die von besonderem Interesse sind. Schon aus diesem Grund verfügt das Buch über ein Register.
Anders als ein Großteil der marktüblichen Einführungen in das wissenschaftliche Arbeiten richtet sich dieses Buch nicht an Studierende einer spezifischen Fachrichtung, sondern versucht vielmehr, auf die allgemeinen Probleme einer im weitesten Sinne kulturwissenschaftlichen Abschlussarbeit einzugehen.4 Die im weiteren Verlauf ang
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eführten Beispiele stammen zwar aus meinem eigenen Erfahrungs- und Arbeitsbereich der Kultur- und Mediengeschichte und sind dementsprechend historisch grundiert, sie versuchen jedoch von den Idiosynkrasien einer jeweiligen Fachkultur zu abstrahieren. Zugleich richtet sich das Buch an interessierte, neugierige und ehrgeizige Studierende, die nicht unbedingt noch einmal erklärt bekommen wollen, dass die Universitätsbibliothek eine eigene Internetrepräsentanz besitzt.5 – Doch nun genug der Vorrede. Hinein in die Dinge.
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1 Vgl. Eco (1977 / 2010), das Genre der Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten kennt natürlich ungleich mehr Texte als nur den von Eco. Allerdings fallen fast alle