Scharf griff er die betreffenden Bischöfe an: „Will sich denn keiner dieser Kirchenmänner an die Worte ihres angeblichen Gründers, Jesus von Nazareth, erinnern, der seine Verachtung für diese Art Täter, ohne Sexualverbrechen an Kindern gezielt zu benennen, folgendermaßen zum Ausdruck gebracht hat:
‚Wer einem dieser Kinder ein Leid zufügt, für den wäre es besser, man würde ihm einen Mühlstein um den Hals hängen und ihn in die Tiefe des Meeres versenken!’
Für diese Art Priester ist in der katholischen Kirche kein Platz! Natürlich rede ich nicht der Todesstrafe das Wort. Aber als ‚Seelsorger’ ist so ein Mann – solange es nicht gelingt, ihn von dieser unheilvollen Veranlagung zu befreien – wohl kaum geeignet! Und seine Schuld muss er auf jeden Fall, wie jeder andere Sexualstraftäter auch, in einem Gefängnis büßen!“
Nachdem sich diese Reaktion Leos in der Öffentlichkeit verbreitet hat, gewinnt er wiederum die Herzen derjenigen, die er bisher mit seinen Äußerungen verprellt, verunsichert oder gar abgestoßen hat.
„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“
(Psalm 103, 2)
In einem Punkt zumindest irren die Menschen nicht: Der Papst verfolgt tatsächlich einen Plan. Und diesen auch schon über sehr lange Zeit. Schwester Monique weiß nur in etwa und leider auch nur sehr bruchstückhaft darüber Bescheid.
Der Schwur eines sechsjährigen Jungen auf dem sogenannten „Schwarzen Kontinent“ im Jahre 1894 ist bei Seiner Heiligkeit noch keineswegs vergessen. Wurde er in seiner Familie doch über mehrere Generationen tradiert. Einem einstmals geschundenen Volk sollte, wenn auch spät, Genugtuung verschafft werden für zugefügte Schmach. Diejenigen, die sich damals anmaßten, die Herren zu sein, später deren Erben, sollten zur Rechenschaft gezogen werden und dafür büßen, was ihre Vorfahren einst verbrochen hatten.
„Im ehemaligen Deutsch-Ostafrika ist bisher in dieser Richtung noch so gut wie gar nichts geschehen!“, bemängelt Papst Leo nicht zum ersten Mal. „Im Westen des Schwarzen Kontinents ist man ein kleines bisschen eher zur Sache gekommen – wenn auch nicht allzu nachdrücklich.
Immerhin hat man sich vor gut zwanzig Jahren zu einer eher halbherzigen Schadensersatzklage wegen des Genozids der Deutschen vor mehr als einem Jahrhundert durchgerungen. In Namibia reichten die Nachfahren der Völkermordopfer vor einem Gericht in New York Klage ein, nachdem sie sich endlich ein Herz gefasst hatten.“
„Wieso in Amerika?“, wundert sich Schwester Monique. „Was haben denn die Amerikaner damit zu tun – außer dass sie in ihrem eigenen Land selbst Sklavenhalter gewesen sind?“
„Nach einem entsprechenden Gesetz können in den USA Ansprüche von Ausländern geltend gemacht werden, auch wenn die Ereignisse nicht auf dem Boden der USA stattgefunden haben“, bekommen die Schwestern Monique, zweiundvierzig, und ihre Nichte Angélique, vierundzwanzig Jahre alt, zu hören.
Auch letztere eine Klosterfrau des Ordens der Kleinen Schwestern Jesu – und genauso wenig mit Leo XIV. nahe verwandt wie ihre Tante Monique … Die Ordensfrau Monique hatte ihre Äbtissin gebeten, ihre Nichte zu sich holen zu dürfen, um sich in der fremden Umgebung nicht so verlassen zu fühlen.
„Auch das heutige Namibia war einmal eine deutsche Kolonie. Bei Massakern am Volk der Herero und der Nama wurden zwischen den Jahren 1904 und 1908 mehr als einhunderttausend Menschen von den Deutschen getötet.“
So detailliert wussten das beide Frauen bisher nicht.
„Aber die Deutschen haben es immer verstanden“, fährt Leo XIV. fort, „entsprechende Forderungen nach Wiedergutmachung abzuschmettern und stattdessen die Nachfahren der Opfer mit lahmen und vor allem billigen Entschuldigungen abzuspeisen. Und auch das nur nach massivem psychologischem Druck – im eigenen Land übrigens …
Außerdem glaubte man, erst in Bonn, später in Berlin, durch das Gewähren von ‚großzügiger Entwicklungshilfe’ sei man sowieso aus jeder weiteren Verantwortung entlassen und vor finanziellen Regressansprüchen sicher.“
Aus jedem Wort, das der Heilige Vater zu diesem traurigen Themenkomplex äußert, spricht sein Groll über jene über Generationen hinweg tradierte ohnmächtige Wut der indigenen Bevölkerung. Zum Teil kann ihn Monique verstehen – aber eben nur zum Teil. Wie steht es mit der von Christen geforderten Vergebung? „So dich einer auf die rechte Wange schlägt, reich’ ihm auch die linke dar!“
Hatte sich nicht der Gründer ihrer Religion selbst in diesem Sinne geäußert? Für den Heiligen Vater scheint das keine Rolle zu spielen.
„Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes in Jesus Christus.“
(Römer 8, 38f.)
Über vieles kann Schwester Monique mit dem Heiligen Vater sprechen, nur nicht über ihr Intimleben, das zu ihrem Leidwesen nicht mehr stattfindet – immer noch nicht. Geschickt versteht es Leo, ihre diesbezüglichen zaghaften Versuche abzublocken und andere Themen anzuschneiden. Außerdem bittet er sie so gut wie nicht mehr, ihn am späten Abend in seinen Gemächern aufzusuchen …
Es kommt der jungen Frau allmählich vor, als sei für ihn das jahrelange intime Zusammensein mit ihr nur Mittel zum Zweck gewesen, quasi der Motor, der ihn angetrieben habe, um sein ehrgeizigstes Ziel zu erreichen: den Papstthron.
Nachdem er diesen errungen hat, scheint er diesen Motor nicht mehr zu benötigen. Für seine nunmehrigen Vorhaben, denen Monique, soweit sie davon, wenn auch nur lückenhaft, Kenntnis besitzt, scharf ablehnend gegenübersteht, bedarf Seine Heiligkeit offenbar anderer „Antriebsmaschinen“, als sie es ist.
‚Den größten Teil seiner kargen Freizeit verbringt Maurice nicht mehr mit mir, sondern mit afrikanischen ‚Freunden’, die er vorher nicht hatte, ja, meist nicht einmal gekannt hat’, muss sie enttäuscht erkennen. Eine Tatsache, die sie traurig macht, aber auch ein wenig wütend. Ausgesperrt und zunehmend übergangen fühlt sie sich; ja, im Grunde genommen als Betrogene.
Zu Anfang, während der Phase ihrer Eingewöhnung in Italien, plagte Monique zudem die Eifersucht auf die um etwa zwanzig Jahre jüngere Angélique, die sie doch selbst gebeten hatte, sie in „die Fremde“ zu begleiten. Sie überlegte bereits, wie sie ihrer jungen hübschen Verwandten den Aufenthalt im Vatikan wieder vergällen könnte, um die junge Nonne zu veranlassen, sich wegen „starken Heimwehs“ um die Rückkehr in ihr Kloster in Ghanumbia zu bemühen.
Bis Schwester Monique erkannt hat, dass sie sich gewaltig irrte, sind etliche Wochen vergangen, während denen sie Seine Heiligkeit und ihre Cousine mit Argusaugen beobachtete.
Jetzt weiß sie definitiv, dass weder von seiner noch von Angéliques Seite ein Interesse besteht, neben einem rein freundschaftlichen ein sexuelles Verhältnis zu beginnen.
* * *
Statt Zeit mit seiner schönen Geliebten zu verbringen, lässt es sich der Heilige Vater angelegen sein, im Tagebuch seines Vorfahren zu lesen. Der Text ist ihm zwar keineswegs neu, aber er empfindet bei der Lektüre eine gewisse Befriedigung: bietet sie ihm doch die Bestätigung der Recht- und Verhältnismäßigkeit seines Vorhabens …
Maurice Obembe, seine Mutter Mtaga, mit dem ihr von den neuen Herren aufgezwungenen „weißen“ Namen Elisa, seine Geschwister und die übrigen der Gruppe versteckten sich nach etlichen Wochen, Ende Juli 1894, am Rande des Urwalds wie waidwunde Antilopen im dichten Gebüsch.
Nach wie vor meidet Elisa die auf Lichtungen errichteten Dörfer sowie die Klöster. Sprüche wie aus einem „Römerbrief“, den ihr die Mönche vor Jahren ans Herz legten, der von der untrennbaren Liebe zu Gott sprach, empfindet sie mittlerweile als Hohn. Um solches nie mehr hören zu müssen, nimmt sie auch weite Umwege in Kauf.
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