2000 wurde Kagame ruandischer Regierungschef. Er setzte auf eine Politik der Einheit und Versöhnung. Offiziell wurde nicht mehr zwischen Hutu und Tutsi unterschieden, der von der belgischen Kolonialregierung eingeführte Passeintrag „Hutu“ bzw. „Tutsi“ wurde abgeschafft (vgl. Herzsteine S. 63). Eine Schlüsselrolle im Prozess der angestrebten Versöhnung spielte der Umgang mit den aus dem Kongo zurückkehrenden Hutu. Kagame ließ Tausende mutmaßliche Mörder festnehmen und der Justiz übergeben. Untersuchungshäftlinge trugen pinkfarbene Gefängniskleidung, Verurteilte trugen orangefarbene Kleidung. Im Roman begegnet Sam Untersuchungshäftlingen:
„Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, rollt ein Pick-up an, auf dessen großer Ladefläche ein Haufen Männer sitzt, die alle eine Art babyrosa Schlafanzug tragen. […] ‚Das sind Strafgefangene‘, sagt Mum, die Sams Blick verfolgt. ‚Mörder, um genau zu sein.‘“ (S. 113–114)
Um eine Überfüllung der Gefängnisse zu vermeiden, wurden 2005 mit den „Gacacas“ Dorfgerichte eingeführt, die über die Beschuldigten urteilten. Nach dem Absitzen ihrer Strafen kehrten die Mörder in ihre Dörfer zurück.
Kagames Strategie der Versöhnung in Verbindung mit der angestrebten ökonomischen Entwicklung des Landes machte Ruanda bei Geberländern interessant, die in das völlig verarmte Land zu investieren begannen. Damit vollzog sich eine bis heute anhaltende sozioökonomische Transformation des Landes, wovon vor allem der Bauboom zeugt, worauf im Roman häufig angespielt wird (vgl. z. B. S. 165–166). Baufällige Häuser oder solche, die nicht ins Stadtbild passen, wurden im Zuge dieser Gentrifizierung[5] zunächst markiert und, wenn sie danach nicht nach sechs Monaten renoviert worden waren, abgerissen. Dies erzählt auch Jansen, wenn Felicitas ihren Mann bittet, die Renovierungsarbeiten am Haus von Mama Munyemana zu finanzieren, um das Haus zu retten (vgl. S. 182).
Zudem wurde der Dienstleitungssektor ausgebaut und moderne Industrien angesiedelt, sodass sich Ruanda zum IT-Zentrum Ostafrikas entwickelte. Unter anderem entstand in der Hauptstadt das College of Science and Technology, wo Ruandas neue Elite ausgebildet wird. Daneben etablierte sich der Tourismus. Es werden geführte Touren zu den Gorillas im ruandischen Hochland angeboten, die sich zu einem Millionengeschäft entwickelt haben. Jansen verweist im Text darauf, wenn Sams Vater an einer solchen Tour teilnimmt (vgl. S. 180–181).
Die Lebensbedingungen für die Landbevölkerung waren (und sind) allerdings nach wie vor schwierig. Von dem neuen Wirtschaftswachstum ist dort wenig zu spüren. Von der traditionellen Subsistenzwirtschaft[6] können die Menschen kaum leben. Die Lebensumstände sind ungeheuer primitiv (vgl. S. 112). Zwar versucht Kagame, der nach wie vor Regierungschef ist, das Problem mit der Einführung der Plantagenwirtschaft zu lösen, doch diese Landreform würde eine Abkehrung von der Tradition des Ackerbaus, durch die sich die Hutu definieren, bedeuten.
Jugendbücher über den Genozid in Ruanda:
Über tausend Hügel wandere ich mit dir[7] von Hanna Jansen, erschienen 2002. In diesem Jugendroman verarbeitet Jansen die Erlebnisse ihrer Adoptivtochter Jeanne, die als Achtjährige den ruandischen Genozid überlebte und bei dem Ehepaar Jansen ein neues Zuhause fand.
Auf der Suche nach Stéphanie von Esther Mujawayo[8] und Souâd Belhaddad, publiziert 2007. Das Buch ist biografisch und handelt von der Suche der Autorin nach den sterblichen Überresten ihrer Schwester und deren Familie zwölf Jahre nach dem Morden. Ein Augenzeuge soll ihr helfen, doch der gibt plötzlich vor, sich nicht mehr zu erinnern.
Die stummen Schreie von Elisabeth Combres, erschienen 2010. Die fünfjährige Tutsi Emma muss den Mord an ihrer Mutter mitansehen. Sie selbst kann fliehen und findet Unterschlupf bei einer alten Frau. Als Heranwachsende versucht sie das furchtbare Geschehen zu verdrängen. Als ihr das nicht mehr gelingt, beschließt sie, sich mit dem Unfassbaren auseinanderzusetzen.
Herzsteine von Hanna Jansen, erschienen 2012.
Thematisiert werden die Auswirkungen instrumentalisierten Hasses und die Folgen von schockierender Gewalt in Ruanda.
2.3 | Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken |
ZUSAMMENFASSUNG
Die Bücher Hanna Jansens stehen für einen klaren und ungeschönten Blick auf soziale Realitäten und damit verbundene Schicksale – teilweise eingebettet in den Kontext fremder Länder.
2001 erscheint mit Der gestohlene Sommer das erste Buch Hanna Jansens. Es ist ein Jugendbuch und handelt von Andi, der mit seiner alleinerziehenden Mutter und seiner geistig behinderten Schwester Theresa Ferien an einem See macht. Als er Theresa an diesem See ein Märchen von einer Nixe erzählt, taucht die junge Lilo auf, die dort in einem Bootshaus lebt. Theresa entwickelt eine große Anhänglichkeit Lilo gegenüber. Andi hat für Lilo ambivalente Gefühle, er empfindet sie als reizvoll-rätselhaft. Trotzdem lässt er sich auf einen Handel mit ihr ein: Sie kümmert sich für einige Stunden um Theresa, dafür bekommt sie von ihm Nahrung und Geld und er seine Freiheiten. Dann jedoch erscheint die Polizei am Bootshaus und will Lilo mitnehmen. Lilo flieht, Theresa nimmt sie mit. Andi gesteht alles seiner Mutter. Später bringt Lilo Theresa zu ihrer Familie zurück.
Ein Jahr später folgt mit Über tausend Hügel wandere ich mit dir (2002) ein weiteres Jugendbuch Jansens und das erste über den Genozid in Ruanda. Protagonistin ist Jeanne, die während des Völkermords ihre gesamte Familie verliert. Sie selbst kann fliehen und gelangt schließlich nach Deutschland, wo sie sich ein neues, sicheres Leben aufbaut. Für dieses Buch wird Jansen 2003 mit dem „Buxtehuder Bullen“ ausgezeichnet und für den „Friedrich-Gerstäcker-Preis“ nominiert. 2007 erhält sie für den Roman den „Gold Medal Independent Publisher Book Award“ in der Kategorie Multicultural Fiction–Children’s sowie den „PMA Benjamin Franklin Award“ für die englische Ausgabe.
Ebenfalls 2002 erscheint mit Ich heirate Felixa das erste Kinderbuch Jansens. Es handelt von dem dunkelhäutigen Adoptivkind David, der sich im Kindergarten in die blondhaarige Felixa verguckt und erste rassistische Erfahrungen machen muss. Die lllustrationen zu dem Buch lieferte Barbara Korthues.
Auch Gretha auf der Treppe von 2004 ist ein Kinderbuch mit Illustrationen von Barbara Korthues. Die Familie Engel hat für ihre Zwillinge das kolumbianische Au-Pair-Mädchen Gretha angestellt. Zunächst sind die Kinder wenig begeistert, doch dann schließen sie die ungewöhnliche Gretha ins Herz, die eine Vogelspinne besitzt und wunderbare Geschichten aus ihrer Heimat erzählt.
2011 publiziert Jansen die Kurzgeschichte Noel oder der Traum von Iburayi. Noel, ein zehnjähriger Junge aus Ruanda, reist allein nach Europa, das in seiner Sprache Iburayi heißt. Zunächst lebt er bei seinem Onkel in Brüssel, der sich aber nicht um ihn kümmern kann. Schließlich wird er von einer deutschen Familie aufgenommen, bei der auch andere afrikanische Kinder leben. Die Kurzgeschichte erscheint in der von Petra Deistler-Kaufmann 2011 herausgegebenen Anthologie Zu Hause ist, wo ich glücklich bin.
2012 erscheint mit Herzsteine ein weiteres Jugendbuch Jansens. Auch mit diesem Roman thematisiert sie den ruandischen Genozid.
2013 folgt Zeit der Krabben. Die 17-jährige Cynthia kehrt nach ihrem Highschool-Abschluss zu ihren Eltern in die Karibik zurück. Sie trifft auf sich auflösende Sozialstrukturen: Die Eltern scheinen sich voneinander entfremdet zu haben, der Vater kapselt sich ab. Der Bruder ist beim Militär und verstößt absichtlich gegen den Verhaltenskodex. Cynthia beginnt sich für den Kameraden ihres Bruders, Guiguito, zu interessieren, der in die Kriminalität abgleitet. Inmitten dieser die Kontrolle über ihr Leben verlierenden Menschen muss Cynthia sich darüber klar werden, welche Richtung sie ihrem Leben geben will.
2016 erscheint mit Linus im Glück ein von Britta Gotha illustriertes Kinderbuch