In Cefalù, der Stadt der fünf Gelynchten, traf die Nachricht am 22. Juli ein. Das Giornale di Sicilia zwängte sie auf der ersten Seite zwischen den Bericht vom Dreyfus-Prozess in Paris, die königliche Hochzeit in Griechenland und das Auslaufen des Überseedampfers Nord America aus dem Hafen von Genua mit Ziel Montevideo.
AMERIKANISCHE GRÄUELTAT
FÜNF ITALIENER GELYNCHT
New York, den 22. – (Agenzia Stefani). Ein Telegramm aus Tallulah, einem Dorf im Madison County in Louisiana, teilt mit, dass der bekannte Doktor Hodge eine Auseinandersetzung mit einem Italiener hatte. Dieser schoss mit einem Jagdgewehr auf Hodge und verletzte ihn tödlich.
Die Volksmenge ergriff den Italiener und vier seiner Freunde, Italiener wie er, die der Komplizenschaft verdächtigt wurden, hängte sie an Bäume und durchsiebte ihre Körper mit Kugeln. Es handelt sich um Carlo, Giacomo und Francesco Difatto, S. Frudace und Giovanni Cheranao. Die öffentliche Meinung verurteilt den Lynchmord. Die Behörden haben einen Prozess eingeleitet.
New Orleans, den 22. – Kaum hatte der italienische Konsul von dem Lynchmord in Tallulah erfahren, schickte er den Konsularbeamten von Vichsboms zum Tatort, um eine Untersuchung anzustellen und für die Bestrafung der Schuldigen zu sorgen. Wieder einmal sind dem barbarischen amerikanischen Brauch, der sich fälschlich durch die Bezeichnung Lynchjustiz zu rechtfertigen sucht, italienische Siedler zum Opfer gefallen.
Wie der Lynchmord von New Orleans ist auch der von Madison ein grausames Massaker, der einem zivilisierten Land zum Schaden gereicht.
Vor allem, weil von der Menge nebst dem Beschuldigten auch die Italiener ermordet wurden, die sich in seiner Gesellschaft befanden.
Wir erwarten, dass die Regierung jetzt mit dem gebotenen Nachdruck handelt, um die strenge Bestrafung der Schuldigen und eine angemessene Entschädigung für die Familien der unglückseligen Opfer zu erwirken!
An den darauffolgenden Tagen gab das Giornale di Sicilia ein paar weitere Details bekannt, korrigierte die Namen und fügte einige Personenangaben hinzu. Man erfährt so:
Die drei Brüder Difatto, Francesco, Carlo und Joe (alias Giacomo), haben in New Orleans eine Tante, Lucia Baraona, verheiratete Mangiapane, die derzeit mit dem Ehepaar Romano zusammenwohnt.
In Cefalù lebt noch die Mutter der drei, Teresa Baraona, außerdem haben Francesco und Carlo dort Frau und Kinder zurückgelassen, Joe einen Sohn. Salvatore Fiducia besitzt in Amerika keine weiteren Verwandten außer Salvatore Imbraguglia, ebenfalls in New Orleans ansässig, bei dessen Mutter es sich um eine Cousine von Fiducia handelt.
Keiner der fünf Gelynchten ist je amerikanischer Staatsbürger geworden. Wie es aussieht, haben die beiden älteren Brüder Difatto einen ersten Schritt unternommen, um die amerikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen.
Schließlich entdeckten die Journalisten des Giornale di Sicilia zwei Fährten. Die erste:
Es gilt als sicher, dass einer der Brüder Difatto eine Anstecknadel mit einem Brillanten und eine goldene Uhr bei sich trug, ein weiterer Bruder drei Hundertdollarscheine [hier, wahrscheinlich ein Druckfehler, folgen die Worte »6100 jeder«], und die anderen hatten etwas Geld und ein paar andere Dinge in der Tasche: Alles ist verschwunden, und man weiß nicht, in welche Hände es geriet, sicher ist nur, dass die Diebe unter jenen Vollstreckern der … Gerechtigkeit waren.
Die zweite:
Es gibt jetzt solche, die sagen, dass die Ursache für den verhängnisvollen Angriff auf Doktor Hodge nicht die Tötung einer Ziege war, sondern dass es dabei um Frauen ging.
Darüber hinaus brachten sie ihre Version der letzten Momente der Opfer:
Sobald man sie aus dem Gefängnis geholt hatte, begriffen die fünf Unglücksmenschen, welches Schicksal sie erwartete: Zwei der Brüder baten um Gnade, und es heißt, sie hätten gestanden, mit den anderen unter einer Decke gesteckt zu haben, um den Doktor zu ermorden. Dieses »Geständnis« brachte die Menge nur noch mehr gegen sie auf, so dass die Verurteilten, denen klar wurde, dass »jedes Gebet nutzlos« war, Mut fassten und die Leute verfluchten: Es gäbe da schon jemanden, der die »niederträchtigen Hunde«, die sie umbringen wollten, bestrafen würde.
Alles in allem:
Die Frauen, die Brillantnadel und die Dollarbündel, das Komplott zur Ermordung des Doktors, die »niederträchtigen Hunde«. Für das Giornale di Sicilia, das demzufolge über eigene Informationsquellen zu verfügen schien, blieb das Ereignis von Tallulah schleierhaft. Man könnte sagen, ihm haftete ein gewisser häuslicher Geruch an.
In Cefalù, wo praktisch jeder einen Verwandten in Louisiana besaß, gab es im Übrigen keinerlei Bekundung von Trauer oder Protest. Keine Totenmesse, keine Forderung nach einem würdigen Begräbnis. Auf dem Domplatz kam es weder zu einem Menschenauflauf, der das Einschreiten der Carabinieri erfordert hätte, noch wurde eine Kundgebung einberufen. Für die Familien der Getöteten gab es von Seiten der Behörden keinerlei materielle Unterstützung. Von den Defattas und ihren Vettern – sie werden als »Siedler« bezeichnet – erfuhr man so gut wie nichts, und niemand schien sich für ihre Geschichte zu interessieren. Die Fotografien, die sie in Jacke, Weste und mit Taschenuhr zeigten, hatten sie nie nach Hause geschickt. Sie hatten keine Briefe geschrieben, nichts von sich hören lassen. Als hätten sie sich seit Jahren im Weltraum verloren, an Bord eines Raumschiffs.
Gewiss, damals unterlagen die italienischen Zeitungen der Zensur. Und gewiss waren die sizilianischen Journalisten schon früh daran gewöhnt, kein Wort zu veröffentlichen, das falsch gedeutet werden konnte, und sich nicht zu sehr in Privatangelegenheiten vorzuwagen. Beim Lesen jener mageren Berichterstattung bleibt jedoch ein ungutes Gefühl zurück, als gäbe es da ein verordnetes Schweigen, als wüssten sie mehr und sagten es nicht. Undeutlich hat man ein Bild vor Augen: schwarzgekleidete Frauen in ihren Häusern und Verwandte, die kommen, um ihnen Neuigkeiten aus Amerika zuzuflüstern. Doch schon stehen die nächsten zum Aufbruch bereit, die Schiffsfahrkarte in der Tasche. Ihnen wird versichert, jene Tat hätte sich nicht dort ereignet, wo sie hingingen, sondern ganz woanders, es bestünde daher keine Gefahr.
Unsere fünf erfuhren allerdings die Genugtuung,