Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika. Enrico Deaglio. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Enrico Deaglio
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783949558016
Скачать книгу
/section> image image

      Antonello da Messina Ritratto d’Uomo (zwischen 1465 und 1476), Museo Mandralisca, Cefalù, Sizilien.

       Enrico Deaglio

       Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika

       Essay

      Aus dem Italienischen von

      Klaudia Ruschkowski

image

      Für Suzanne und Albert Paxton

       Inhalt

       1Vor dem Lynchkommando

       2Das Gemälde von Antonello

       3Der sechste Mann

       4Die Nachricht ging durch die Zeitungen …

       5Sklaven, Generäle, Land, Zucker und Baumwolle

       6Im Schädel der Dagos

       7Die Geburt einer »Rasse«

       8Seltsame Früchte

       9Inspektionen und damit verbundene Handlungen

       10Kreuzabnahme

       11Eine Mission im Auftrag des Königs

       12Epiloge, oftmals unerwartet

       Thanks to alla frienda

       Statt einer Bildlegende

       1

       Vor dem Lynchkommando

      Die Schlinge lag bereits um Frank Defattas Hals, und sie hatten ihm auch eine Zigarre in den Mund gesteckt. Er wandte sich an die Menge und schrie in dem gebrochenen Englisch der Dagos:

      »I liva here sixa years. I knowa you all. You alla my frienda.« Mit einem schroffen Ruck zogen sie ihn in die Höhe, das Seil scharrte über die Rinde der Pappel, und Frank hörte auf zu schreien. Die Zigarre fiel aus seinem Mund, und er begann zu husten. Während dieser wenigen Sekunden glaubte er jedoch noch immer, dass sie ihn herunterlassen würden: Er kannte sie, jeden Einzelnen von ihnen, seit sechs Jahren waren sie alle seine Freunde.

      Er dachte nicht, dass seine Geschichte hier schon zu Ende wäre, er glaubte vielmehr, dass sie ihm nur Angst einjagen wollten, ihm und seinen Brüdern, dass er am Leben bliebe, um die Sache viele Jahre später zum Besten zu geben: Wie sie ihn unerwartet vor dieses Lynchkommando gestellt hatten. Er hätte nicht von seinem Vater angefangen, von der Kälte und den Zigeunern. Nein, er hätte erzählt, wie die Welt von oben aussieht, so, wie Christus sie vom Kreuz aus sah. Man brauchte nur ein Stückchen hinaufzuklettern, und schon wurden die Menschen so klein, während sich andererseits die Erde in ihrer ganzen Größe auftat, die endlose Ebene, die gelbe Biegung des großen Flusses und zugleich die Distanz von der Welt, von zu Hause.

      Er hätte erzählt, dass er sich in einem Traum in dem großen alten Dom seines Städtchens gesehen hatte, als Kind an der Hand seines Vaters Nicolò, unter dem riesigen Antlitz des Christus Pantokrator, zusammengesetzt aus Millionen von Mosaiksteinchen, kleine goldene Punkte, die Kinder und Seeleute bei Unwetter beschützen. Und es schien ihm jetzt, als hätte die segnende Hand dieses Christus zwischen Zeige- und Mittelfinger schon immer eine Zigarre gehalten.

      Es herrschte eine große Hitze an jenem Sommerabend des 20. Juli 1899. Die Nachrichten wurden mit vielen Stunden Verspätung in den Telegrafen gehämmert, nämlich erst, nachdem man dem Telegrafisten die Augenbinde abgenommen und ihn losgebunden hatte. Die Mitteilung lautete, dass in der Kleinstadt Tallulah, dem Verwaltungssitz von Madison Parish im nordöstlichsten Winkel des Bundesstaates Louisiana, eine »geordnete und schweigsame, aber höchst entschlossene« Menschenmenge – unter Berufung auf den Brauch der Lynchjustiz – dafür gesorgt hatte, dass fünf dort ansässige Italiener den Tod durch Erhängen fanden.

      Ihre Namen:

      Giuseppe (Joe) Defatta, 34 Jahre

      Francesco (Frank) Defatta, 30 Jahre

      Pasquale (Charles) Defatta, 54 Jahre

      Rosario Fiduccia, genannt Sy Defichi, 37 Jahre

      Giovanni Cirami, genannt John Cerano

      oder Cyrano, 23 Jahre.

      Die drei Defattas waren Brüder. Und alle fünf stammten aus der sizilianischen Ortschaft Cefalù, handelten mit Obst und Gemüse, besaßen zwei Geschäfte in Tallulah und Karren für den Straßenverkauf.

      Die Gründe für das kollektive Lynchen erwiesen sich als dürftig, auf jeden Fall als unglaublich.