Die Zeitungen sprachen dann noch von einem sechsten Italiener, auch er ein Sizilianer aus Cefalù, ein gewisser Giuseppe (Joe) Defina, ein Schwager der Defattas, der mit seinen beiden Söhnen im nahegelegenen Milliken’s Bend, am Westufer des Mississippi, eine Gemischtwarenhandlung betrieb. Die Menge hatte versucht, auch mit ihm abzurechnen, aber Joe Defina war es gelungen, über den Fluss zu fliehen.
Wie ich erfahren sollte, war die ganze Geschichte jedoch viel größer. Größer heißt schrecklicher, niederträchtiger, mysteriöser, aber auch abenteuerlicher und mit fast märchenhaften Zügen.
Für den Moment soll das genügen, denn ich will dem Leser erzählen, wie ich von der Sache erfahren habe und warum sie mich so gefesselt hat.
Der Anfang ist wirklich recht merkwürdig. Die Familie meiner Frau Cecile – väterlicherseits seit drei Generationen italoamerikanisch, mütterlicherseits franko-irisch – stammt aus Texarkana, einer Kleinstadt im Grenzgebiet zwischen Texas, Arkansas und Louisiana. Meine Schwägerin Suzanne, die älteste der drei Brunazzi-Schwestern – meine Frau ist die jüngste und Elizabeth die mittlere – ist mit Albert Paxton verheiratet, einem mittlerweile über neunzigjährigen Herrn, dem Ländereien in Tallulah, Louisiana, gehören. Auch heute noch betreiben Albert und Suzanne eine große Farm, wo über Jahrzehnte Baumwolle, Soja und Mais angebaut wurden, und züchten cutting horses. Diese Pferde erinnern an das Amerika der guten alten Zeit. Sie waren als Arbeitspferde darauf getrimmt, in den großen Rinderhaltungen kranke oder verletzte Tiere von einer ziehenden Herde zu trennen. Heutzutage werden die cutting horses für den Sport trainiert und bei den beliebten Westernspektakeln an etlichen Orten der Vereinigten Staaten eingesetzt. Ihre Fertigkeit, die sie in jahrelanger Zurichtung erworben haben, besteht darin, ein Kalb in Läufen von knapp einer Minute von der Herde zu trennen, ohne mit ihm in Berührung zu kommen oder es zu verletzen. Preisrichter beurteilen die Eleganz und das Wesen der Bewegungsabläufe von Pferd und Reiter. Dies ist ein Sport für Kenner und Gentlemen, bei dem die Wetteinsätze hoch sind und die guten Pferde sich als wahre Juwelen auf vier Beinen erweisen.
Meine Frau und ich fahren regelmäßig nach Tallulah, heute kaum mehr als ein Haufen heruntergekommener Häuser an den Bayous, den versumpften Seitenarmen und Gewässern rund um den Mississippi, den großen Fluss. Zur Zeit unserer Geschichte, vor allem aber kurz davor, war Tallulah ein Brennpunkt des beispiellosen Kampfes zwischen dem Süden und dem Norden, zwischen den Befürwortern der Sklaverei und den Abolitionisten. Über diese mit Baumwolle bepflanzten Weiten zog im wahrsten Sinn des Wortes die Weltgeschichte hinweg.
Heute kämpft Tallulah eher mit dem Problem, die Zeit totzuschlagen. Deshalb ging ich eines Tages, das ist schon eine ganze Weile her, zum kleinen Sitz des Ortsvereins, wo Tina Johnson, eine junge Mitarbeiterin, sich die schier übermenschliche Aufgabe gestellt hatte, den Tourismus nach Tallulah zu holen. Das gesamte Gebiet ist berühmt für seine Bären, und 1907 kam Teddy Roosevelt, der Präsident der Vereinigten Staaten, auf Einladung einiger befreundeter Großgrundbesitzer zu einem Jagdausflug just hierher. Und da geschah das berühmte Ereignis, das in die Geschichte einging. Roosevelt hatte sein Messer schon auf einen kleinen Bären angesetzt (damals war die Jagd eine ziemlich blutige Angelegenheit), doch in letzter Minute verschonte er ihn. Dieses glückliche Bärchen wurde dann auf den Namen Teddy Bear getauft. Der Teddybär eben, ohne den kein Kind der Welt mehr zu Bett geht, sein bester Freund, wenn es Fieber hat, wenn ihm irgendein Missgeschick zugestoßen ist. Dieser Teddybär also erblickte in Tallulah das Licht der Welt. Und so entstand der Slogan: »Besucht Tallulah, die Stadt von Teddybär.« (In Wahrheit, das entdeckte ich später, blieb Tina bei dieser Geschichte bewusst etwas vage, denn Roosevelt war zwar zur Jagd nach Tallulah gekommen, die Episode mit dem Bären aber, das steht inzwischen fest, ereignete sich im benachbarten Bundesstaat Mississippi.)
Während wir uns so unterhielten, ließ Tina fallen: »Aber wissen Sie denn, dass hier vor sehr langer Zeit fünf Italiener gelyncht wurden?« Sie verwahrte sogar einige Zeitungsausschnitte über den Fall.
Beim Abendessen berichtete ich davon, und Suzanne wurde regelrecht traurig. »Oh, sie haben es dir tatsächlich gesagt …« Sie hatte ihren Freundinnen im Country Club, mit denen sie jeden Mittwoch Bridge spielte, erzählt, dass ihre Schwester einen Italiener heiraten und mit ihm nach Tallulah kommen würde. Und natürlich konnten die Freundinnen sich die Bemerkung nicht verkneifen: »Hoffentlich bekommt dein Schwager nichts von den fünf gelynchten Italienern mit …«
Aber die geschwätzige Tina hatte ihren Mund nicht halten können, und so habe ich von der Geschichte erfahren. Noch merkwürdiger war, dass ich in Tallulah verschiedenen Leuten begegnet bin, deren Familien ebenfalls aus Cefalù stammen. Allerdings waren sie erst lange nach den schrecklichen und mysteriösen Vorfällen von 1899 hierhergekommen.
Außer dem Ortsverein von Tina Johnson (das Büro ist mittlerweile geschlossen, sie selbst wohnt nicht mehr in Tallulah) gibt es noch einen anderen Ort, an dem lokales Erinnerungsgut bewahrt wird. In einem Museum, es besteht aus drei Räumen, hütet John Earl Martin – ein ehemaliger Kriegspilot, dem später die noch weitaus gefährlichere Aufgabe zuteilwurde, aus einer Flughöhe von zehn Metern über dem Boden chemische Düngemittel auszubringen – Fotografien und offizielle Dokumente des Städtchens. Er kannte die Geschichte. Sie hatte sich ganz in der Nähe ereignet. Vom Fenster aus zeigte er mir den Haken neben den Bahngleisen, an dem man damals die Ochsenviertel trocknete (hier wurden die ersten zwei Sizilianer erhängt), und den Ort, an dem die riesige, vor Zeiten bereits gefällte Pappel gestanden hatte, die den anderen dreien zum natürlichen Galgen geworden war.
Mr. Martin zog also aus einem der Schubfächer seines Archivs eine blaue Mappe mit der Aufschrift Tallulah lynchings, darin ein Zeitungsausschnitt und ein verschlossener Umschlag. Im Umschlag, den wir wie Komplizen öffneten, steckte eine Diskette. Leider war sie so vorsintflutlich, dass wir nie mehr erfahren werden, was darauf gespeichert war. Der Zeitungsausschnitt hingegen erwies sich als aufschlussreich. Es handelte sich um einen Leitartikel der Wochenzeitung Madison Journal von 1974, verfasst von deren Herausgeber Carroll Regan, einem bekannten Lokaljournalisten, der leider bereits seit vielen Jahren tot ist.
Der Artikel war mit Das Skelett von Tallulah überschrieben und enthielt folgenden Absatz:
Die Bürger von Vicksburg, denen das Gesetz lieb und teuer ist, reagierten schockiert auf das brutale Vergehen, das sich im Nachbarort ereignet hat. So hat die italo-amerikanische Gemeinschaft von Vicksburg gefordert, die sterblichen Überreste ihrer ermordeten Landsleute zu exhumieren und nach Vicksburg zu überführen, um sie auf dem städtischen Friedhof beizusetzen. Als die Leichname eintrafen, gaben ihnen etwa dreißig italienischstämmige Vicksburger das Geleit bis zur Grabstätte. Dort bestattete man sie ohne religiöses Zeremoniell, da sie zwar Mitglieder der Kirche gewesen waren, aber »keine praktizierenden«.
Hier kam eine weitere Komponente der Geschichte ans Licht, über die damals keine einzige Zeitung berichtete. Die Leichen der fünf Bauern beziehungsweise Händler aus Cefalù waren demnach auf irgendeinem Acker verscharrt worden, anonym und würdelos. Heute weiß man, dass es Usus war, nach Lynchaktionen auf die hängenden Körper zu schießen, ihnen Finger und Nasen abzuschneiden, Fotografien von ihnen zu machen, die dann als Postkarten verschickt wurden. Nicht bekannt ist, ob das ganze Ritual auch den fünf Männern aus Cefalù zuteilwurde. Jedenfalls musste etwas Unvorhergesehenes eingetreten sein, wenn die Lynchknechte sich gezwungen sahen, zumindest eine gewisse Form von Pietät zu wahren.
Die sterblichen Überreste der Männer, die im Staat Louisiana getötet wurden, überquerten den Fluss, um im Staat Mississippi beigesetzt zu werden. Das Vicksburger Beerdigungsinstitut Fisher Funeral Home übernahm die Umbettung und das Begräbnis, der Ordensträger Natale (Nat) Piazza, Honorarkonsul des Königreichs Italien in Vicksburg und Besitzer eines stadtbekannten Hotels, trug die Kosten von gut einhundertsechzig Dollar.
Allmählich füllte sich die Szene mit Gestalten.
Und so war meine Neugier endgültig geweckt, und ich begann, Nachforschungen über diese groteske Geschichte anzustellen: Fünf unglückselige