„Sieh zu, dass du das wieder in Ordnung bringst, sonst blüht dir nicht nur eine Ohrfeige.“ Der Mann, groß und breit wie ein Schrank, riss sie vom Boden hoch, umspannte brutal ihr Kinn und zwang sie somit, in seine Augen zu blicken. Deutlich zeichneten sich auf ihrer Wange die Finger der großen Männerhand ab.
Olga war klar, dass dies keine leere Drohung war. Dieser Mann war zu allem fähig.
Sie wagte nicht, ihre Hand auf die schmerzende Wange zu legen.
„Lass dir also etwas einfallen! Erzähl ihm, dass der Kerl dich dazu gezwungen hatte. Dieser Mark ist doch so ein Beschützertyp.“
Olga nickte. Sie hatte das Gefühl, dass sich hier vielleicht eine neue Chance bieten konnte, ungeschoren davonzukommen. Vor Erleichterung rollten ihr Tränen aus den Augen.
Rasputins Kaumuskeln entspannten sich, und das Gesicht nahm wieder eine normale Farbe an. „Du schaffst das! Genauso musst du ihm gegenübertreten. Ein paar Tränen, und er wird weich.“ Begehren sprach aus seinen Augen. „Du bist viel zu schön, als dass er dir widerstehen könnte.“ Rasputin zog sie ruckartig zu sich heran, presste sie gegen seinen Körper und küsste sie hart und brutal.
Olga ließ sich innerlich triumphierend darauf ein und schmiegte sich provozierend an ihn. Ihre Hände glitten über seinen Körper.
„Genau das meine ich“, murmelte er, ohne sich vollständig von ihren Lippen zu lösen.
***
Sabrina nutzte den letzten Schwung und ließ das Fahrrad im Hof ausrollen. Sie lenkte es vor den Schuppen, der sich etwas abseits vom Ferienhaus befand. Dort bewahrte sie nicht nur die Fahrräder auf, sondern ebenfalls die Gartenmöbel, den Grill und die Sommerdeko für den Außenbereich.
Vor Freude hopsend begleitete Orko sie laut bellend bis zur Hütte.
Sabrina stieg ab und streichelte ihn flüchtig. „Ist schon gut, mein Junge. Bin ja wieder da. War alles in Ordnung?“, fragte sie und schaute dabei kurz zur belegten Ferienwohnung. Gleich darauf widmete sie sich dem Rad und ihren Einkäufen. Auch der Rottweiler wandte den Kopf in dieselbe Richtung und ließ ein leises Knurren vernehmen. Im nächsten Augenblick zog er jedoch die Nase kraus und fletschte die Zähne.
Sabrina drehte sich überrascht noch einmal um.
Der Jüngere, Anton, hatte die Wohnung verlassen und kam auf sie zu. Schüchtern lächelte er ihr entgegen.
Eigentlich sieht er gar nicht so unsympathisch aus, dachte Sabrina.
In gebührendem Abstand blieb er stehen: „Darf ich?“, fragte er, da er sich offenbar nicht näher an sie herantraute.
„Aus, Orko! Ist schon gut“, beruhigte sie ihren Hund. „Kommen Sie!“, rief sie dem jungen Mann zu.
„Einkaufen?“, fragte er und wies auf die gefüllten Taschen.
„Ja. Ihr Frühstück und Abendessen. Bier und Wodka“, zählte Sabrina auf.
„Ah – gut! Ich helfe.“ Anton schnappte sich die Taschen und zog sie aus den Fahrradkörben.
Sabrina nickte nur und brachte das Rad wortlos in den Schuppen, während Anton auf sie wartete und den Hund ängstlich beobachtete.
Orko seinerseits ließ ihn nicht aus den Augen. Man merkte ihm an, dass er nur auf einen Fehler des jungen Mannes wartete. Dann könnte er ihm zeigen, wer hier das Sagen hatte.
Gleich darauf ging Sabrina zum Wohnhaus, während Anton ihr folgte, sperrte die Hintertür auf und trat ein.
Der lange, dunkle Flur führte direkt zum vorderen Hauseingang. Kurz davor befand sich rechts vor dem Treppenaufgang das kleine Büro und gegenüber die Wohn-Küche, deren Tür Sabrina nun öffnete.
In dem großzügigen Raum im ostfriesischen Stil gab es nicht nur im Essbereich das typische Ostfriesensofa, sondern auch noch einen ursprünglichen Stangenofen, der mit Holz oder Kohle befeuert wurde. Damit wurde schon früher, vor allem in der kalten Jahreszeit, gerne gekocht und gebacken. Gleichzeitig verbreitete er eine wohlige Wärme.
Einige Schritte vom Essplatz entfernt befand sich eine einladende Couchgarnitur. Auf einem flauschigen Teppich stand ein rechteckiger kniehoher Wohnzimmertisch, groß genug für Getränke, Gläser sowie Knabbereien, der schon einigen Geselligkeiten gedient hatte.
Vor den gekippten Wohnzimmerfenstern mit Blick auf die private Terrasse zur einen Seite und zum Garten zur anderen bauschten sich zarte, bodenlange Gardinen, als die Tür geöffnet wurde.
„Stellen Sie die Tüten bitte auf den Tisch. Das Frühstück ist pünktlich fertig. Ich bringe es Ihnen dann in Ihre Wohnung.“
„Nein, haben Sie einen anderen Raum?“ Anton fühlte sich unbehaglich, das sah man ihm an. Er schaute erwartungsvoll zum Küchentisch.
„Nein, hab ich nicht. Hier können Sie nicht essen. Kommt nicht in Frage.“
„Wir zahlen“, wandte er halbherzig ein, schon ahnend, dass er auf Widerstand stoßen würde.
„Nein! Auf keinen Fall! Sie können draußen essen. Holen Sie die Möbel aus dem Schuppen und stellen Sie sie in den Hof. Mehr können Sie nicht von mir erwarten. Warum nicht in Ihrem Zimmer?“
„Männer …“, lächelte Anton schief.
„Unordnung macht mir nichts aus. Sie müssen darin leben – nicht ich. Solange Sie mir nicht einen Schweinestall hinterlassen, wenn Sie wieder abfahren, ist es mir egal.“
„Gut, dann draußen.“
Der junge Mann drehte sich auf dem Absatz um und verschwand.
Sabrina begann den Einkauf zu verstauen und hoffte inständig, dass diese Gäste schon bald wieder abfahren würden.
Plötzlich stutzte sie. Abfahren? Ja, womit denn? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie kein Fahrzeug gesehen hatte. Wie waren sie hierhergekommen? Oder hatte sie es übersehen?
Diese Frage ließ ihr keine Ruhe. Sie nahm den Hausschlüssel, rief Orko und ging zur Vordertür hinaus.
Auf ihrem kleinen Abstellplatz stand kein Wagen. Der wäre ihr auch bestimmt vorhin aufgefallen, als sie zum Einkaufen fuhr. Kam nur ein Taxi in Frage. Aber warum zu ihr? War es Zufall? Hatte man sie empfohlen? Oder hatten sie ganz gezielt eine abgelegene Bleibe im Internet gesucht? Wenn ja – wozu?
***
Marks Ausbruch war vorüber. Er starrte auf die umgeworfenen Möbelstücke. Immerhin hatte er sich beruhigt, bildete er sich ein. Doch eigentlich fühlte er sich eher wie betäubt. Kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Mit hängenden Schultern trat er ans Fenster und schaute hinaus, ohne etwas von der Aussicht wahrzunehmen.
Der grau verhangene Himmel legte sich langsam beruhigend auf sein Gemüt. Kein Geräusch drang von außen zu ihm. Die Mehrfachverglasung schirmte ihn völlig ab.
Wie auf einer einsamen Insel, dachte Mark und glaubte plötzlich keine Luft mehr zu bekommen.
Nein, auf einer Insel würde er Naturgeräusche wahrnehmen.
Mit seinen Eltern war er einmal als kleiner Junge während der Sommerferien auf einer Insel gewesen.
Aus seiner Heimatstadt im westfälischen Münster waren sie nach Ostfriesland aufgebrochen. Seitdem verbrachten sie dort jede Sommerferien. Einmal hatten sie sich eine Tagesfahrt nach Langeoog gegönnt.
Dieser Tag war ihm in lebhafter Erinnerung geblieben. Es war ein ausgesprochen schöner Sommertag gewesen, als sie morgens in Bensersiel die Überfahrt mit der Fähre antraten.
Der Morgen roch frisch und würzig. Noch war die Luft