„Du hast Ideen! Aber erst, wenn sie schlafen.“
„Lass uns die Morgenstunden nutzen. Da ist der Schlaf am tiefsten.“
„Sollen wir nicht lieber bis morgen warten, wenn sie Wodka intus haben? Dann schlafen sie vielleicht fester.“
„Nein! Heute!“
„Oh jemine! Hoffentlich geht das gut!“, jammerte Rolf.
***
Der Wecker riss Sabrina um 6.00 Uhr aus dem Schlaf. Es dämmerte, und entschlossen warf sie die Bettdecke zurück.
Orko, der vor ihrem Bett gelegen hatte, sprang auch sogleich auf und stupste wedelnd mit seiner feuchten Nase gegen ihre nackten Beine.
„Moin, mein Schatz!“, begrüßte sie ihn liebevoll und streichelte seinen Rücken. Sie ließ ihn in den Garten, schnappte sich ihre alte Jacke vom Haken, warf sie über und ging ebenfalls nach draußen, um den Hühnerstall zu öffnen.
„Moin, meine Lieben!“, rief sie den Hühnern auf der Stange zu. Doch da kam als Antwort nur ein schläfriges „Gaaaaagaaaag“ zurück. Es musste erst noch ein wenig heller werden, dann würden sie sich auf Futtersuche durch den Garten begeben.
Als sie sah, dass Orko nur noch schnüffelnd umherlief, um Spuren von Hasen oder anderen nächtlichen Besuchern zu erfassen, rief sie ihn zu sich.
Wieder schloss sie die Tür ab. Fehlt noch, dass einer von den Männern auftaucht, während ich dusche, dachte Sabrina.
Glücklicherweise ist der Jüngere nicht viel größer als ich, bemerkte sie wenig später, als sie das Fahrrad aus dem Schuppen holte. Dann musste sie den Sattel in der Höhe nicht verstellen.
„Du passt gut auf, Orko, hörst du?“, schärfte sie dem Rottweiler ein, der nun wie üblich auf dem Hof Stellung bezog, bis sie wieder zurück war.
Diesmal schloss sie die Türen ab, was sie sonst nie machte. In Ostfriesland war man in Sicherheit. Na ja, zumindest bis jetzt, gab sie zu. Denn die beiden waren ihr wirklich viel zu distanzlos, als dass sie sich sicher fühlen konnte.
Sie schwang sich aufs Rad und fuhr vom Hof. Von ihrem erhöhten Sitz aus konnte sie einen Blick auf das Benser Tief werfen, dessen Wasser wie ein Kanal durch den Schaffhauser Wald floss, vorbei an ihrem Haus, bis es in Bensersiel in die Nordsee mündete, wenn man es denn ließ. Die Sieltore öffnete man nur bei hohem Wasserstand.
An diesem entlegenen Fleck, umgeben von Feldern, verstreut liegenden Häusern und dem Benser Tief, nur einen Steinwurf entfernt, fühlte sie sich wohl, war sie zu Hause.
Hier, am Rande der Kleinstadt Esens, hatten ihre Eltern das ehemalige Bauernhaus vor vielen Jahren gekauft, umgebaut und es als passenden Ort empfunden, um ihren wilden Jahren Einhalt zu gebieten und ihr, Sabrina, eine Heimat zu geben.
Dort wuchs sie unbeschwert in Freiheit und Sicherheit auf, ging zur Schule bis zum Abitur und hatte sich um die Zukunft keine Sorgen gemacht. Schlagartig hatte dann jedoch das Schicksal zugeschlagen und ihr den Boden unter den Füßen weggerissen.
Sabrina befuhr nur kurz den „Wolder Weg“, einen einspurigen Landschaftsweg, der nach Esens führte. Gleich darauf bog sie, nach nicht einmal fünfzig Metern, in den „Himmelriekspad“, eine Abkürzung von etwa sieben Minuten. Lediglich für Fußgänger und Radfahrer war der Pfad geeignet, der kurvenreich durch die weitläufige Landschaft führte, Namensgeber ihrer Ferienwohnanlage war und zu Hochdeutsch „Himmelreichspfad“ hieß.
Sabrina genoss den kühlen Fahrtwind, vom Vogelgezwitscher begleitet, vorbei an den ersten Kühen, die zu dieser frühen Stunde auf der Weide dösten. Dem Winterstall entlassen, genossen sie das erste frische Grün.
Tief sog Sabrina die Luft ein. Sie liebte diesen Duft. Frisch und herb aus der Nordsee, vermischt mit dem Atem feuchten Grases und dem warmen Geruch der Kühe. In solchen Augenblicken vergaß sie nicht nur ihre finanziellen Sorgen.
Bald würden die ersten Touristen eintreffen. Die Anmeldungen konnten sich sehen lassen, und sie vertraute einfach auf zusätzliche spontane Besucher. Bisher hatte es immer geklappt. So fuhr sie fröhlich dem Supermarkt entgegen.
In der Bäckerei, die im Geschäft untergebracht war, kaufte sie frische Brötchen, und während sie Aufschnitt, Butter, Marmelade und Kaffee kaufte, überlegte sie, was sie kochen könnte. Was würden sie mögen? Sie entschied sich für Sauerkraut – preiswert, Eisbein – auch günstig und sogar im Angebot, dazu Kartoffelbrei. Ah, Milch und Zucker. Der Einkaufswagen füllte sich. Nun noch Wodka und Bier. Das würde allerdings bis zu Hause ganz schön durchgeschüttelt werden.
Heute würde sie sich an dem Frühstück beteiligen. Das war ihr Lohn. Noch ein paar Eier, und gleich darauf packte sie den Einkauf sorgfältig in die Fahrradkörbe.
Schwer beladen fuhr sie, in der Vorfreude auf ein leckeres Frühstück, zurück nach Hause.
***
„Man kann wirklich nichts entdecken, was auf ihre wahre Identität hinweisen würde. Mist!“
„Sei nicht so laut. Du könntest sie wecken, Gerda!“, mahnte ihr Mann.
Es dämmerte bereits, und so blickte sich Gerda im Wohn-Essbereich um. Die eingebaute Küchenzeile bot die Möglichkeit, sich zu versorgen. Auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers stand eine Karaffe mit Leitungswasser neben benutzten Gläsern. Reichlich zerknülltes Bonbonpapier, das auf eine russische Süßigkeit hinwies, lag über den ganzen Tisch verteilt.
„Die haben offensichtlich nur Schlickerkram zu Abend gegessen“, flüsterte Gerda. „Sehr merkwürdig. Sie haben doch genug Geld, um essen zu gehen. Warum haben sie es nicht gemacht?“
„Vielleicht waren sie nach der Radtour einfach zu müde“, mutmaßte Rolf. „Ich verstehe wirklich nicht, warum du alles so genau wissen willst.“
„Na, die beiden sind doch nicht sauber. Das sieht ja ein Blinder! Ich will wissen, was die vorhaben. Nicht, dass unserer Sabrina etwas passiert!“
Rolf wurde beim letzten Satz hellhörig. „Was sollte ihr denn passieren?“ Seinem „Augapfel“ durfte nichts geschehen.
„Was weiß ich? Da gibt es genug Möglichkeiten. Entführung. Verge…“ Sie brach ab, dieses Wort konnte sie einfach nicht aussprechen. „Gewalt eben!“
„Aber was können wir denn machen?“ Rolf wurde nun doch unruhig.
„Als Erstes müssen wir herausbekommen, was die vorhaben. Ich glaube im Leben nicht, dass sie harmlose Feriengäste sind.“
„Schön und gut, aber wie? Wir verstehen doch kein Wort!“
„Wir müssen an ihnen dranbleiben, sie nicht mehr aus den Augen lassen.“
„Du meinst, uns von hier entfernen, um sie zu verfolgen?“
„Ja, es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben.“
„Meinst du, das geht?“, warf Rolf ängstlich ein.
„Wir müssen es einfach versuchen, Rolf.“
„Psst. Ich glaub, da kommt jemand!“
„Wohin jetzt so schnell?“ Gerda blickte sich suchend um.
„Rasch in die Dusche!“ Rolf war in Sekundenschnelle hinter dem Vorhang in der Badewanne verschwunden. Sogleich war Gerda an seiner Seite.
„Glaubst du, dass das eine gute Idee ist?“, zischte sie ihm zu. „Die werden doch als Erstes ins Bad gehen. Und aufs Klo!“ Gerda verdrehte die Augen.
„Ruhe! Jetzt ist es zu spät!“
Im nächsten Augenblick kam tatsächlich Igor oder Iwan, wie immer er auch hieß, ins Bad. Was sich dort dann abspielte, blieb zu Gerdas Erleichterung verborgen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit klappte endlich die Tür hinter