In Österreich war das Thema ab 1989 vor dem Hintergrund eines WHO-Projekts zur Gesundheitsversorgung von Migrant:innen präsent (Pöchhacker 1997a). Federführend in der Lancierung dieses Feldes sowohl in der Forschung als auch im Rahmen eines ersten Praxisprojekts (Pilotkurs Dolmetschen im Krankenhaus) war Franz Pöchhacker von der Universität Wien (Pöchhacker 1997b, 2000). Das Gerichtsdolmetschen wurde 2001 von Kadrić erstmals umfassend thematisiert. Ab 2000 wurde das Thema auch im Forschungsprofil des Instituts für Translationswissenschaft der Universität Graz verankert (Pöllabauer 2000, Pöllabauer & Prunč 2003, Pöllabauer 2005), wo seit 2001 niederschwellige Universitätslehrgänge zum Thema angeboten werden (Prunč 2012b) (siehe dazu auch Pöchhacker in diesem Band). Seit 2016 werden an der Universität Wien auch postgraduale Universitätslehrgänge, seit 2018 auch als Masterprogramme für Behörden- und Gerichtsdolmetschen (Postgraduate Center 2019) wie auch Lehrgänge für Schriftdolmetschen und Dolmetschen mit Neuen Medien angeboten.
Damit lässt sich feststellen, dass diese Domäne des Dolmetschens im deutschsprachigen Raum seit mehr als 30 Jahren von unterschiedlichen Interessensträger:innen (Praxis, Lehre, Forschung) und in unterschiedlichem Ausmaß wahrgenommen, lanciert und vorangetrieben wurde. Von einem anfangs stark vernachlässigten Bereich, mit suboptimalen Bedingungen und geprägt vom Nimbus der Minderwertigkeit, war in den letzten Jahren eine gewisse Konsolidierung zu erkennen, mit einem wachsenden Angebot an extrauniversitären Ausbildungs- und Qualifizierungsangeboten, einer stärkeren Einbindung auch in das curriculare Angebot an traditionellen Ausbildungseinrichtungen für Übersetzen und Dolmetschen, einer zunehmenden Akzeptanz derartiger „sozialer“ Themen in der Translationswissenschaft und einem gewissen Maß an Sensibilisierung für die Bedürfnisse von Dolmetscher:innen vonseiten der Bedarfsträger:innen und daran gekoppelt mehr Austausch und Synergien zwischen den verschiedenen Interessensgruppen. Und dennoch wird das Community Interpreting weiterhin auf dem C-Markt des Dolmetschens (Kutz 2010:82) angesiedelt und auch noch in jüngerer Zeit als wenig professionalisiert wahrgenommen (Neff 2015:220).
Derartige Negativbefunde ebenso wie persönliche Beobachtungen zu aktuellen Entwicklungen im Feld sind die Triebfedern für diese Publikation, die auf einer Makroebene Dimensionen der „Translationskultur“ (Prunč 1997 und später) in diesem Feld zu skizzieren und diese auf einer Mikroebene mithilfe professionssoziologischer Faktoren zu verorten sucht.
Bevor eine Darstellung des Konstrukts der Translationskultur und des professionssoziologischen Grundgerüsts, die die im Rahmen dieser Publikation vorgenommenen Darstellungen der Situation im DACH-Raum speisen, vorgenommen wird, scheint eine Modellierung des sozialen Raums, in dem derartige innergesellschaftliche Dolmetschhandlungen stattfinden, zweckmäßig.
3 Modellierung des sozialen Raums
Dolmetschen in einem nationalen gesellschaftlichen Umfeld wird im Fall von Lautsprachen oft mit den Begriffspaaren „Flucht“ und/oder „Migration“ in Verbindung gebracht, im Fall von Gebärdensprachen mit innergesellschaftlichen sprachlichen Minderheiten. In beiden Kontexten ist (erfolgreiche, transparente, faire) Kommunikation ein bestimmender Faktor für individuelle Bedürfnisse und Befindlichkeiten auf der Subjektebene ebenso wie für das soziale Miteinander in einem größeren gesellschaftlichen Rahmen. Sprachbarrieren ebenso wie divergierende Wissensbestände erschweren oder verhindern den Zugang zu Informationen und Anschlussmöglichkeiten. Dolmetscher:innen können in diesem Gefüge eine Schlüsselfunktion übernehmen, als gatekeeper fungieren, indem sie Türen zur Verständigung zwischen Menschen mit oft sehr unterschiedlichen lebensbiografischen und soziokulturellen Hintergründen öffnen. Der Objektbereich dieses Feldes, das, wie oben erwähnt, nach wie vor – und in jüngster Zeit wieder verstärkt – unter verschiedenen Benennungen beschrieben wird1, lässt sich wie folgt weiter bestimmen:
Dolmetschen in
einem bestimmten innergesellschaftlichen Umfeld (z.B. behördliche, medizinische, therapeutische Settings),
zwischen professionellen Bedarfsträger:innen und privaten Klient:innen,
häufig in dialogischen Situationen von unmittelbarer und zentraler Relevanz für die persönliche Befindlichkeit und die Bedürfnisse der Klient:innen,
in denen die unmittelbare Präsenz und Angreifbarkeit von Dolmetscher:innen stärker als in anderen, etwa monologisch geprägten Settings, sich auch auf das Handeln und Rollenverständnis der dolmetschenden Personen auswirken.
Vor diesem Hintergrund schreibt Prunč (2017:23) mit Bezugnahme auf das Begriffsinstrumentarium von Bourdieu dem Feld des Community InterpretingCommunity Interpreting im Gegensatz zum Konferenzdolmetschen, das meist mit einem höheren symbolischen Kapital ausgestattet ist, ein „niedriges bis negatives symbolisches Kapital“ zu, was sich v.a. daraus erklärt, dass die Klientel von Dolmetscher:innen in diesem Feld Randgruppen wie Flüchtlinge, Minderheiten und Migrant:innen oder „andere Verlierer der Globalisierung“ (ibid.) sind, die oft weder über entsprechendes ökonomisches Kapital, noch über soziale Handlungsressourcen (z.B. umfassende Einbindung in ein soziales Netzwerk und die damit einhergehende Anerkennung), noch über kulturelles Kapital (z.B. Bildungstitel) verfügen.
Mit Bezug auf die Dolmetscher:innen lässt sich diese Negativspirale in bestimmten Fällen auch auf diese selbst übertragen, zumal sie unter Umständen ebenso wenig über das nötig Sozial- oder Kulturkapital verfügen, etwa wenn das „Kommunikationsproblem“ durch die Bestellung von nicht ausgebildeten und für dieses Feld qualifizierten Dolmetscher:innen erfolgt. Hier handelt es sich um eine Vorgehensweise, die nach wie vor vielerorts gängig und in der weiterhin tradierten Annahme begründet ist, dass SprachkompetenzKompetenzenSprachkompetenz, die oft nur unzureichend gegeben ist, für derart „einfache“ Kommunikationssituationen ausreicht und dass derartige Situationen auch von Begleitpersonen oder zufällig Anwesenden gut bewältigt werden können. Für Dolmetscher:innen bieten derartige Handlungsgefüge daher oft wenig Handlungsspielraum: „Durch den Umgang mit diesen Randgruppen geraten die Dolmetscher selbst in den Bannkreis der Ohnmacht“ (Prunč 2017:25).
In diesem Band wird vor diesem Hintergrund der soziale RaumDolmetschenim soziokulturellen Kontext des Dolmetschens in derartigen nationalen innergesellschaftlichen Gefügen mit Fokus auf den DACH-Raum ausgeleuchtet. Erfasst werden dialogische gedolmetschte Interaktionen abseits des Konferenz- und Verhandlungsdolmetschens: Dolmetschen in verschiedenen gesellschaftlichen Kontaktsituationen, einschließlich des Gerichtsdolmetschens. Auch auf aktuelle technologische und gesellschaftliche Entwicklungen (Ferndolmetschen, Formen der barrierefreien Kommunikation) wird eingegangen.
4 Translationskultur und Superdiversität
Als Rahmen für die Darstellung dient, wie erwähnt, Prunčs Konstrukt der TranslationskulturTranslationskultur (u.a. 1997, 2008, 2017). Prunčs Überzeugung, dass Translation auch immer eine „gesellschaftssteuernde und ideologische Funktion“ (2000:20) hat, spiegelt sich in seiner Modellierung von „Translationskultur“, die definitorisch wie folgt erfasst werden kann:
[…] das historisch gewachsene System einer Kultur […], das sich auf das Handlungsfeld Translation bezieht und das aus einem Set von gesellschaftlich etablierten, gesteuerten und steuerbaren Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen aller in dieser Kultur aktuell oder potentiell an Translationsprozessen beteiligten Handlungspartner besteht. (Prunč 1997:107)
TranslationskulturenTranslationskultur sind nicht ahistorisch, sondern zeitlich geprägte, gewachsene Konstrukte, die dem in einem gesellschaftlichen Rahmen vorherrschenden Wertegefüge unterliegen (Prunč 2017:33). Translator:innen sind in diesem System „selbstverantwortliche Handlungspartner“ (ibid.:111), die auch an der Aushandlung der das System steuernden Normen und Konventionen beteiligt sein können/sollten. Neben den Translator:innen werden auch die anderen Akteur:innen in die Pflicht genommen: Im Rahmen einer „demokratischen Translationskultur“ (Prunč 2017:33), in deren Zentrum