Schon schnellte eine Hand an seine Gurgel und schlug die Finger in seinen Adamsapfel. Der Cobra-Mann drückte zu, langsam, als hätte er alle Zeit dieser Welt, seine Beute zu erlegen und ihr beim Leiden zuzusehen. Seine Augen glühten wie aufgedrehte Herdplatten, und Gradoneg ging die Luft wie bei einem kaputten Fahrradreifen aus.
„Dir gönn ich das ‚Graue Haus‘!“, ließ der Typ endlich von der Gurgel ab.
Verständlich, dass Gradoneg kein Wort mehr herausbrachte und sein Mut zwischen den Fingern des Beamten endgültig zerrieben worden war.
Das Graue Haus?! ..., schnappte er verzweifelt nach Luft und versuchte gleichzeitig seine Angst runterzuschlucken. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit dem „Grauen Haus“.
Er wusste sehr gut, was das ‚Graue Haus‘ war.
‚Graues Haus‘ sagen die Wiener zur ‚Justizanstalt in der Josefstadt‘ im 8. Bezirk.
‚Grau‘, weil dies die Farbe der Häftlingsuniformen war, die dort im letzten Jahrhundert getragen wurden. Und noch ein viel schlimmerer Farbton hinterließ in diesem Gefängnis eine bestialische Blutspur: Über 1.200 Menschen waren dort von Nazischergen mit einem Schafott im Keller hingerichtet worden. Es war historisch vielmehr ein „braunes, grauenhaftes Haus“, diese Justizanstalt in der Josefstadt.
Bei Gradoneg perlte sich der Angstschweiß auf der Stirn. Doch nicht in die Josefstadt!
Lieber hätte er sich gleich zu Hemmas Kater Whitey auf die Trage der Tierrettung gelegt und ein verdrehtes Sprunggelenk gegen sein jetziges Schicksal eingetauscht. Besser eine Tierklinik als die Justizanstalt in der Josefstadt.
Der Angstschweiß tropfte ihm von den Schläfen, und alle Zuversicht fiel von ihm ab. Nicht nur sein Ruf war zerstört, jetzt sollte er auch noch in eine Zelle mit den schlimmsten Verbrechern Wiens geworfen werden. Tatsächlichen Verbrechern! Frauenmördern, Pädophilen, Amokläufern und Dschihadisten! Bestenfalls konnte er Drogendealern begegnen.
Alles verloren!
Wie hatte er nur die letzten beiden Jahre um ein besseres Leben gekämpft und geschuftet – und nun sollte seine Zukunft in einer Gefängniszelle unter Schwerverbrechern verbluten?! Sein Leben, seine Ehe, die Kinder, sein Beruf … alles sollte plötzlich den Bach, ja die Donau runtergehen?! Jetzt, wo er mehr war als ein Wurm mit einer belanglosen Schleimspur. Beinahe schon ein richtiger Währinger war er, angesehen und wohlbestallt. Der Job passte, Ursula passte sowieso, die neu renovierte Wohnung passte, die Kinder passten, und sogar er schien seiner Frau zu passen. Dachte er jedenfalls.
Alleine ein kurzer Blick auf die aktuelle Familienchronik der Gradonegs zeigt, was so alles mit dieser Hafteinlieferung auf dem Spiel stand und gefährdet wurde:
Endlich, endlich, endlich … hatte sich das Füllhorn des bürgerlichen Glücks über sie ergossen. Denn die Gradonegs hatten geerbt und – wie gesagt – mit dem Sparstrumpf einer verstorbenen Tante die Wohnung picobello renoviert. Als sich beinahe zeitgleich der Alkoholiker in der Nachbarwohnung die Pulsadern aufschnitt, wurde ihr Glück auf tragische Weise noch perfekter. Haben Sie ein bisschen Geduld mit mir …, hatte Gradonegs Nachbar manchmal gelallt …, bald kann ich meine Gicht nimmer wegsaufen und dann mach ich Ihnen eine große Freude, versprochen. Und wie dieser Nachbar Wort hielt: Kaum hatten die bosnischen Arbeiter ihren VW-Bus vorm Haus geparkt, schon lag der Nachbar mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne. Sogar die Hausverwaltung hatte er zuvor angerufen – „die nette Familie nebenan mit dem süßen Kater sollte seine Wohnung bekommen.“
Sozusagen zwei Tote und zwei Wohnungen auf einen Streich.
Zwei Kinderzimmer! Zwei Toiletten für die Gradonegs! Ein begehbarer Schrank!
Fast schon ein bürgerliches Refugium mit einem ökologischen Anstrich à la Ursula: Wände aus gepresstem Bio-Stroh, Tonverputz und Erdfarben; echtes Parkett und portugiesische Fliesen, Zirbenbetten für die Kinder, eine Mies-van-der-Rohe-Sofaimitation fürs Wohnzimmer. Wie in einem frisch lackierten Wald roch es bei den Gradonegs – und die Brise des Glücks wehte für sie weiter: Ursula hatte sich an ein eigenes Wollgeschäft gewagt, unten in der Währinger Staudgasse. Umgarnte dort ihre Kundinnen mit exklusiver Wolle aus den besten Manufakturen Europas. Strickte jeden Tag an einer neuen, erfolgreichen Geschäftsidee und bot sogar Hauben und Mützen aus Schafwolle von Wiener Streichelzoos an. „Haupt-Sache Wien“ nannte sie diese Kreationen, und Gradoneg bekam den ersten Prototypen davon.
Und die Kinder, Hemma und Josef?
Auch bei denen gab es nichts zu meckern. Hemma lernte im ersten Volksschuljahr die Welt zu entziffern. Josef schlug sich bravourös durch die zweite Klasse Gymnasium, sowohl im Unterricht als auch mit seinen Klassenkameraden. Und Gradoneg selbst stand seiner Frau und den Kindern um nichts nach: Er war kein billiger, schmieriger Anzeigenkeiler mehr, sondern ein fest angestelltes Redaktionsmitglied in einem aufstrebenden Verlag für ökologische Sachthemen. Sein einziger und bester Freund, Hannes Roschinic, hatte ihm diesen Job besorgt. „Pass einmal auf“, meinte Roschinic eines Tages zu Gradoneg, „die Freiheit ist nichts für dich. Frei sein ist für manche Menschen gefährlich … Sieht man ja an den ehemaligen Ostblockländern. Das geht meistens schief. Du brauchst Strukturen, unbedingt, sonst kennst du dich in der Welt nicht mehr aus, wie die im Ostblock. Also, ich hab da jemanden für dich … den Thomas Kneisler. Hab dich schon bei ihm angekündigt. Der Thomas Kneisler ist zwar menschlich das Letzte, aber deine Rettung. Bestimmt, glaub mir. Ist ein ehemaliger Pornoproduzent … aber wirklich nichts Schlimmes, nur so schmierige Hefteln und ein paar dreckige Filme. Diese Sachen sind aber längst Geschichte. Mittlerweile macht er nur noch auf Öko … so harmlose Magazine mit Bio-Sachen zum Nachkochen für Schickimickis und Gutmenschen. Ehrlich, vom Thomas ist aus seiner Zuhälterzeit kaum noch was übrig … bloß seine finanzielle Gier und seine Pizza-Sucht. Der ist nämlich gleich nach seiner Geburt und der Muttermilch auf Pizza umgestiegen. Und jetzt frisst er sich mit Bio-Pizzen zu Tode. Aber vertrau mir, außer den Pizzen und seiner Geldsucht ist er in Ordnung. So eine Art ‚Porno-Saulus‘, der zum ‚Bio-Paulus‘ konvertiert ist. Geh unbedingt zu dem hin. Ich hab alles geregelt. Mach das, der Thomas ist deine Rettung.“
Und das tat Gradoneg. Am nächsten Tag fixierte er einen Termin mit diesem Thomas Kneisler. Ursula bastelte ihm einen Lebenslauf am Computer. Mehr als ein paar mickrige Zeilen hatte sein beruflicher Werdegang nicht vorzuweisen. Nur das Foto stimmte einigermaßen mit einem Neunundvierzigjährigen überein, und selbst darauf waren zu viele Falten zu sehen.
Hannes Roschinics seltsame Vorschusslorbeeren für diesen Typen stimmten. Im Büro türmten sich die Pizza-Schachteln bis zur Decke, und Thomas Kneisler war derb und vulgär, doch kein Unsympathler. Ein dicker Glatzkopf, dem der Hüftspeck über die Hosentaschen hing und der sein abgetragenes Sakko wohl seit einer Ewigkeit nicht zuknöpfen konnte.
Das Vorstellungsgespräch war am frühen Vormittag, Kneisler saß bereits am Schreibtisch über seiner ersten Pizza. Mindestens bei jedem zweiten Satz tropfte ihm irgendeine Sauce aus dem Mund, die er mit seinen Fingern von den Lippen wischte, um damit dann seine Stirn und den kahlen Schädel einzuölen.
Kneisler kam gleich zur Sache:
„Der Roschinic hat dir bestimmt Hundert Lügen über mich erzählt, kann ich mir bei diesem Arschloch gar nicht anders vorstellen. Also, ich bin der Thomas ...“, fuhr sich Kneisler über die Lippen und reichte Gradoneg die Hand. „Wir sind doch per ‚Du‘, oder? So von Medienmensch zu Medienmensch“, ließ er Gradoneg erst gar nicht zu Wort kommen. „Aber sag ja nicht ‚Tommy‘ zu mir … ich bin nämlich keine Mayonnaise oder ein Modeschöpfer. ‚Thomas‘ reicht, von mir aus auch nur ‚Kneisler‘, sogar ‚alter Sack‘ oder ‚verwichstes Arschloch‘ ist mir lieber als ‚Tommy‘.“
Er lehnte sich zurück, kaute genüsslich, legte seine eingeölte Stirn in nachdenkliche Falten.
„Na