„Paula Hogitsch“, flüsterte er nach dem Auflegen immer und immer wieder in den Raum hinein. Sollte das ein Scherz von Herrn Rose gewesen sein, oder ging es wahrhaftig darum, einen Nachfolger für sie zu finden?
Er freute sich, ernsthaft wieder für einen interessanten Auftrag in Betracht gezogen zu werden. In den letzten Monaten war es immer schwieriger geworden, an ein Stück des Schreibkuchens heranzukommen. Für ihn blieben nur die uninteressanten Kleinaufträge, durch die man kaum seinen Lebensunterhalt finanzieren konnte.
In den nächsten Minuten flatterte die E-Mail von Christopher Rose in seinen Posteingang. Da sich Tobias gleich vor den Computer gesetzt hatte, um keine Sekunde an Arbeitszeit zu verlieren, sah er die Nachricht umgehend und öffnete sie erwartungsvoll, um sofort zu erfahren, was hinter der geheimnisvollen Namenserwähnung einer seiner Lieblingsautorinnen stand.
Sehr geehrter Herr Gielding,
wie soeben besprochen, freuen wir uns, Ihnen folgende Anfrage für einen Ghostwriting-Auftrag zukommen zu lassen.
Wir suchen nach einem Autor, der bis Mai 2009 einen Kriminalroman im Namen von Paula Hogitsch verfasst. Wir haben ihr 14. und letztes Werk bereits im Verlagsprogramm des kommenden Jahres angekündigt und brauchen jemanden, der diese verantwortungsvolle Aufgabe zu unserer vollsten Zufriedenheit erfüllt. Paula Hogitsch ist – wie Sie bestimmt wissen – eines unserer wichtigsten Zugpferde, deren Fans wir nicht enttäuschen möchten. In Ihrer Bio haben wir gesehen, dass Sie bereits einen Kurzkrimi verfasst haben.
Das Dokument mit den Angaben sowie eine Verschwiegenheitserklärung finden Sie anbei. Bitte lassen Sie uns Ihr Exposé bis in exakt einer Woche zukommen, damit wir ehestmöglich eine Entscheidung treffen können.
Natürlich können Sie sich jederzeit mit mir in Verbindung setzen, wenn Sie noch Fragen dazu haben.
Vielen Dank für Ihre Bemühungen und alles Gute!
Christopher Rose
Tobias’ Herz schlug ihm bis zum Hals. Das Angebot vorhin war ernst gemeint. Außer der nicht unwesentlichen Tatsache, dass es keine Findung eines Nachfolgers von Paula, sondern ein Werk in ihrem Namen sein sollte. Wie um alles in der Welt kam der Verlag auf die Idee, ausgerechnet ihn diesbezüglich zu kontaktieren? Oder ging Peter Biber so bei jedem einzelnen Ghostwriter vor, den er in seinem System gespeichert hatte? Er konnte die Überraschung in Lilos Augen kaum erwarten. Obwohl die Sache äußerst heikel war und die Verschwiegenheitserklärung eindeutig besagte, niemandem davon zu berichten, dass ein Werk in Paulas Namen entstand, konnte er nicht umhin, zumindest seine eigene Ehefrau darüber in Kenntnis zu setzen. Sie wusste, dass er selber ein Fan ihrer Bücher war. Lilo hatte seines Wissens keinen ihrer Romane gelesen, aber das verwunderte nicht weiter, da es sich bei ihr um keine große Freundin der geschriebenen Worte handelte.
Gerade als er sich zurechtlegte, wie er ihr davon berichten würde, trat sie in sein Büro ein.
„Du weißt eh noch, dass wir heute Abend bei Susi und Bernd eingeladen sind, oder? Jetzt wird’s wirklich Zeit, dass wir die zwei endlich wiedersehen.“
Einmal hatte er die Verabredung bereits vergessen und das nächste Mal aus Krankheitsgründen abgesagt. Lilo lehnte sich an den Türstock und setzte ihren erwartungsvollen Blick auf. Sah sie ihn so an, war er stets gefordert, etwas zu sagen, das sie nicht aus der Fassung brachte. Das Letzte, was er brauchte, war Stress mit ihr.
„Tut mir leid, aber das geht nicht“, antwortete er selbstbewusst. Verstand Lilo nicht, dass die Anfrage des Verlags vorging, war ihr nicht mehr zu helfen.
„Das soll wohl ein Scherz sein“, entgegnete sie und setzte an, nach seiner diesmaligen Ausrede zu fragen.
„Du wirst nicht glauben, welcher Auftrag gerade zu mir hereingeflattert ist“, kam er seiner Frau zuvor.
„Ein Auftrag? Ausgerechnet jetzt?“ Meinte sie etwa, jetzt, wo sie wieder einmal eine Einladung von diesem Pärchen erhalten hatten, das er ohnehin nicht leiden konnte?
„Könntest du mir vielleicht auch nur ein einziges Mal zuhören?“
Tobias wartete ab, ob er von ihr ein Zeichen erhielt, das signalisierte, dass sie die Wichtigkeit in seiner Stimme bemerkt hatte. Mit einer kleinen Geste, aber immer noch mit ihrem tadelnden Blick im Gesicht, ließ sie ihn erklären, was dieses Mal hinter seiner Absage steckte.
„Ich habe gerade eine Anfrage von Biber & Benson bekommen. Sie suchen einen Ghostwriter für …“ Tobias wartete kurz, um die Spannung zu steigern. „Paula Hogitsch.“
„Paula wer?“ Wie zu erwarten, war seine Frau nicht imstande, den Namen der Sparte „erfolgreiche Schriftstellerin“ zuzuordnen.
„Bestsellerautorin. 12 höchst erfolgreiche Krimis. Ihr 13. erscheint heuer und den 14. soll ich für sie schreiben.“
„Was?“ Lilo nahm an, ihr Mann würde sich einen Scherz mit ihr erlauben. Mittlerweile hatte sie nicht mehr damit gerechnet, dass er es jemals zu einem großen Auftrag schaffte. Nun stand sie kerzengerade im Türstock und hielt ihre beiden Arme wie ein Kaktus zur Seite. Ihr offener Mund und ihre aufgerissenen Augen verlangten nach einer zusätzlichen Erklärung von ihm.
„Na ja, ich hab zumindest eine Anfrage vorliegen. Jetzt muss ich ein Exposé verfassen, es einreichen, und dann schauen wir weiter, ob es ihnen gefällt. Aber allein dass sie dabei an mich denken, ist unglaublich.“
„Weißt du was?“ Lilo ergriff wieder das Wort. Ihre Reaktion hätte er sich zwar anders gewünscht, doch mittlerweile war ihm bewusst, wie sie tickte und was er von ihr zu erwarten hatte. „Ich gehe heute alleine zu den beiden. Du arbeitest und holst dir den Auftrag. Zeit wird’s!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und schloss die Tür von außen. Wahrscheinlich tat sie die Anfrage als weitere Spinnerei von Tobias ab, doch zumindest ließ sie ihn werken und verschonte ihn mit einem Treffen mit Leuten, dem er ohnehin nichts abgewinnen konnte.
In der folgenden Nacht arbeitete Tobias Gielding durch. Er wollte dem Verlag beweisen, dass er es schaffte, schneller als alle anderen Autoren abzuliefern, und Lilo, dass er die Anfrage zu Recht erhalten hatte. Sein Konzept schickte er am übernächsten Morgen per E-Mail direkt an Peter Biber.
Kapitel 4 – Der Schreiber
August 2008
Tobias Gielding war ein kreativer Mann. Er studierte Menschen, ihr Äußeres in Kombination mit ihrer Art, sich zu geben, und kreierte zu jeder Person, die er sah, umgehend eine kurze Lebensgeschichte. Einen möglichen Namen, Alter, Herkunft, Beruf und Interessen glaubte er aufgrund von Mimik und Gestik zu erraten, wenn er jemanden nur einige Zeit lang beobachtete. Wie oft er mit seinen Vermutungen richtig lag, war ihm unbekannt, doch für ihn stand außer Zweifel, zumindest mit einem Teil ins Schwarze zu treffen. Besonders intensiv musterte er Gesichter, in welchen ihn vor allem die Augen faszinierten, die auf stumme Art und Weise Geheimnisse verrieten.
Die Jahre vor seiner Zeit als Autor blendete er gänzlich aus. Er hatte nie etwas anderes tun wollen als schreiben. Während der Schulzeit ließ man ihn als Teil seiner Ausbildung gewähren. Doch als Erwachsener umgaben ihn immer mehr Menschen im Umfeld, die ihn in seinem Schöpferdrang nicht ernst nahmen und sein Talent weder erkannten noch förderten. Schlimmer sogar, die ihn von seiner Leidenschaft abzubringen versuchten. Wie er mit brotloser Kunst Geld verdienen wolle, pflegte man ihn zu fragen. Niemand verstand, dass er nicht anders konnte. Seine Gedanken, Eindrücke und Erlebnisse sowie sämtliche Geschichten, die ihm begegneten, niederzuschreiben, war wie ein Zwang. Tat er das nicht, fehlte ihm etwas, und zwar der wichtigste Teil in seinem Leben. Mittlerweile kannten die ihn umgebenden Menschen sein Faible, das Notieren sämtlicher Details stets allem anderen vorzuziehen. Seine Frau Lilo akzeptierte es, ohne zu verstehen, was in diesen Momenten in ihrem Mann vorging. Kein einziges Mal wollte sie mit ihm mehr über seine Besessenheit, wie sie es nannte, reden und lehnte weitere Erklärungsversuche seinerseits ab. Wenn sie ihn dann doch hin und wieder vom Schreiben abzuhalten versuchte, beispielsweise im Urlaub, ließ er sie spüren, was mit ihm passierte. Eine Leidenschaft zu unterdrücken, machte einen Menschen nur unglücklich, rechtfertigte