„Ich bin bis elf Uhr noch für dich frei. Dann muss ich zum Flughafen.“
Frank verstand es zwar, seine für sie und die Kinder übrige Zeit so intensiv wie möglich zu gestalten, dennoch kam es ihr häufig so vor, als wäre die Familie nur ein weiterer Termin in seinem prall gefüllten Kalender. Hinzu kam, dass berufliche Treffen meist Vorrang hatten.
„Das ist schön. Wann kommst du zurück?“
„Ich denke, in zehn Tagen bin ich wieder da. Bei diesem Projekt ist leider nichts hundertprozentig fix, aber ich gebe dir Bescheid, sobald ich mehr weiß.“
Mit diesen Worten reichte er ihr den viel zu vollen Brotkorb und zwinkerte ihr zu, als wäre er frisch verliebt. Seine nassen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, was ihn um mindestens fünf Jahre jünger erscheinen ließ. Sie glaubte kaum, dass er demnächst 50 wurde. Lag es daran, dass sie als seine Frau die Veränderung an seinem Äußeren nicht bemerkte, oder sah er wirklich noch genauso aus wie vor zehn Jahren?
„Perfekt. Ich brauche die Zeit ohnehin. In ein paar Tagen soll das Konzept für ‚Zwischen den Zeilen‘ fertig sein.“
Paula war sich dessen bewusst, dass dieses Projekt eine große Herausforderung für sie darstellte. Biber & Benson, ihr Partnerverlag seit 13 Werken, wünschte sich einen Kassenschlager für das Weihnachtsgeschäft 2009, wie ihre Bücher früher bezeichnet werden konnten, bevor ihr Vertrag aufgekündigt wurde.
„Der neue Roman?“
Paula seufzte. Gewiss hatte sie ihrem Ehemann von den Anforderungen des Verlags und der Story dahinter erzählt.
„Du weißt doch. Zwei ungeklärte Morde in einer Kleinstadt. Ich wollte es zuerst nicht machen, weil es zu stark an ‚Unverhofft‘ erinnert, habe mich aber überreden lassen.“
Bei Frank dämmerte es. „Tut mir leid. Jetzt weiß ich, was du meinst. Die Geschichte für dein letztes Buch.“
Für Paula war es wie ein Faustschlag in die Magengrube, dies aus seinem Mund zu hören. Ihr definitiv letztes Buch. Der Verlag hatte ihren gemeinsamen Vertrag beendet, obwohl die Verkaufszahlen für die meisten ihrer Werke stets jegliche Erwartungen übertrafen, wobei sich die Nummer zehn als am erfolgreichsten und ihr absolutes Meisterwerk herausstellte. Mit dem darauf folgenden Roman allerdings war ihrer Erfolgskarriere ein jähes Ende bereitet worden. Ausgelöst durch dieses Verkaufstief entschied Peter Biber, den Vertrag mit ihr zu beenden, um „jungen, frischen Autoren Platz zu machen“. Die Aussage hatte sie damals schwer getroffen, vor allem deshalb, weil sie nach ihrem 40. Geburtstag ohnehin schon in ein tiefes Loch gefallen war. Und obwohl nach der Kündigung noch drei weitere Bücher herauskommen sollten und sie dadurch allesamt Zeit gewannen, die Entscheidung einmal mehr zu überdenken, rüttelte Biber nicht an seiner Anordnung und zeigte sich konsequent. Insgeheim hoffte Paula, mit dem zwölften Werk einen so großen Erfolg einzufahren, dass sich alle über die schlechteste Verlagsentscheidung, die je getroffen wurde, die Haare rauften und man die Schriftstellerin anflehen würde, doch wieder an Bord zu kommen. Dann ertappte sie sich bei dem Gedanken, den Verlagsleiter bitten und betteln zu lassen, während sie auf Zeit spielte und seine Verzweiflung auskostete.
Vorübergehend sprach niemand mehr von der Entscheidung des Verlagsleiters, was Paula als mögliche Wendung interpretierte, doch stur wie er war, machte Biber letztendlich Nägel mit Köpfen, ließ seinen Worten Taten folgen und kündigte ihr nächstes Buch bereits überall als letztes Werk an. Und während sie zwischenzeitlich immerhin ein wenig besser mit der Entscheidung des Verlags zurechtkam, befand sie sich nun erneut mitten in einem Tief, ausgelöst durch eine niederschmetternde Hiobsbotschaft, die ihr vor ein paar Wochen mitgeteilt worden war – sie war ernsthaft krank.
Paula strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und konzentrierte sich auf ihr Marmeladenbrot, um nicht die Beherrschung zu verlieren und aufsteigende Tränen im Keim zu ersticken. Ihre Werke erregten Aufsehen. Nur weil der Verlag das nicht mehr zu schätzen wusste, musste sie nicht ihre kriminalistischen und schriftstellerischen Fähigkeiten infrage stellen. Sie würden sie später einmal anflehen, ihre Serie fortzusetzen, wenn sich kein Erfolg mit ihren „Frischlings-Autoren“ einstellte.
„Du wirst es wieder großartig hinkriegen“, warf Frank seiner Frau mit einem Lächeln zu, als ob er gewusst hätte, dass sie an sich zweifelte. „Ich glaube, wir haben genug Zeit, uns nach dem Frühstück noch einmal hinzulegen.“ Paula nahm endlich sein Schmunzeln an.
„Ruf an, wenn du dort bist!“
Und so war Paula wieder alleine. Sie konnte sich auf „Zwischen den Zeilen“ konzentrieren und würde Biber & Benson beweisen, dass in ihr immer noch Potenzial schlummerte. Wie sie dies trotz ihrer Erschöpfung allerdings anstellen sollte, erschloss sich ihr nicht.
Nach Franks Abreise ließ sie sich auf ihre senffarbene Couch sinken, erschöpft davon, stundenlang eine glückliche, gesunde Frau zu mimen, und schlief auf der Stelle ein. Ihre Träume handelten von Buchseiten, Tatwaffen, Polizeibeamten, Drohbriefen und Gefängniswärtern. In ihrer gegenwärtigen Lage, aber auch sonst, wenn sie an keinem Roman arbeitete, gelang es ihr kaum abzuschalten. Paula Hogitsch war Autorin. In jeder Sekunde ihrer Existenz.
Der nächste Morgen begann besser als der Tag davor. Möglicherweise lag das an Franks Abwesenheit. Weilte er nicht daheim, hatte sie die genialsten Einfälle. Kam er früher als erwartet von einer Dienstreise zurück, brachte sie es nicht fertig, einen sinnvollen Gedanken zu Ende zu führen, und formulierte ihre Sätze wie ein mittelbegabter Siebtklässler. Frank inspirierte sie. Doch nur dann, wenn er nicht physisch anwesend war.
Seit Jahren maßte sich der Verlagsleiter an, Paula Hogitsch Anweisungen für einen „Kassenschlager“ zu geben. Peter Biber überstrapazierte diesen Begriff, und das wusste er, doch er gehörte zu jener Sorte Mensch, die nur Zahlen im Blickfeld hatten. Ob er schon jemals eines der Bücher, die er verlegte, gelesen hatte? Paula schämte sich für diesen Gedanken und verdrängte ihn schnell wieder. Peter war in Ordnung, doch eben ein reiner Geschäftsmann. Wie man einen Roman konzipierte, aufbaute und umsetzte, durchschaute er nicht. Sein Vorgänger Rainer Benson wusste darüber besser Bescheid, doch mit Paulas neuntem Werk hatte er sich in die Rente verabschiedet, und so war sie gezwungen, sich mit ihrem neuen Chef zufriedenzugeben.
Just nach Bibers Einstieg in den Verlag schuf Paula mit ihrem zehnten das bisher erfolgreichste Werk ihrer Karriere, was der Neuankömmling ohne zu zögern auf seine Neustrukturierungen, innovativen Ideen und moderne Marketingoffensiven schob. Auch sie zeigte sich begeistert von den Zahlen, doch ebenso rasch klang ihr Enthusiasmus wieder ab, als Biber eine folgenschwere Entscheidung traf.
„Die Idee zu ‚Zwischen den Zeilen‘ ist mir im Urlaub gekommen“, verkaufte ihr der Verlagsleiter damals seine Vorstellung zum Abschluss-Kassenschlager. Bis zu ihrem 13. Werk hatte er sie nicht mit seinen inhaltlichen Ideen belästigt, doch nun bildete er sich offenbar ein, beim letzten Werk unbedingt sein eigenes Konzept umgesetzt sehen zu müssen. Er liebte es, sich in Szene zu setzen. Jeder verstand es, seine Geistesblitze wohlwollend lobend zu kommentieren: Sie waren „brillant“, was immer er sich zusammengereimt hatte.
„Zwei Morde in einer Kleinstadt oder in einem Dorf – ganz wie Sie wollen. Paula, Sie wohnen doch in einem kleinen Ort. Stellen Sie sich dessen Einwohner vor. Die Routine, die dort vorherrscht. Die Gesichter, die jeder kennt. Und dann plötzlich geschieht ein Mord. Niemand kann sich erklären, was dahintersteckt. Wer kann es gewesen sein? Ein Fremder? Ein Stadtbewohner? Der Fall bleibt ungelöst und wird zu den Akten gelegt. Dann, einige Zeit später, Mord Nummer zwei. Steht er in Zusammenhang mit der Tat von damals? Oder haben die beiden Fälle vielleicht gar nichts miteinander zu tun? Wird die Polizei die Verbrechen aufklären und den oder die Täter endlich hinter Gitter bringen?“
Paula stand das Bild vor Augen, wie Peter damals die Idee vor versammelter Mannschaft in seinem Büro präsentiert hatte