Sie hatte es geliebt, ihren einzigen Sohn zu dominieren, indem sie Regeln aufstellte, die er befolgen musste. Sie war mit ihrer Erziehung zufrieden und hatte ihren größten Triumph darin gesehen, dass ihr Sohn nur selten widersprach. Er war anders als sein Vater, und das empfand sie als äußerst positiv. Sie hatte sich an jeder einzelnen Abweichung erfreut.
Nachdem sie damals entschieden hatte, Tattendorf den Rücken zu kehren und in die Wohnung ihres verstorbenen Onkels in den 5. Wiener Gemeindebezirk zu ziehen, musste sie nicht lange darum bitten, von Jakob begleitet zu werden. Sie war überzeugt, dass er seine in die Jahre gekommene Mutter nicht im Stich lassen würde. Vielmehr hatte sie das Gefühl, dass er froh darüber war, einen kleinen Ort gegen eine kilometerweit entfernte Großstadt einzutauschen.
Seine Mutter hatte ihren Onkel Joseph nicht gut gekannt, nur in ihren Kinderjahren ab und an Zeit mit ihm verbracht. Doch um ihren elften Geburtstag herum war der damals schon verschrobene Mann verschwunden, ohne je wieder Kontakt mit seinen Verwandten aufzunehmen. Bald war er aus ihrem Gedächtnis entwichen, und ebenso dessen zentral gelegene Wohnung in Wien. Als sie dann völlig unvermittelt zur Haupterbin geworden war, traten die Kindheitserinnerungen von damals wieder in den Vordergrund. Schlagartig kam in ihr der Wunsch auf, in Tattendorf alles zurückzulassen und nach Wien zu ziehen, da sie immer schon von der Großstadt fasziniert war.
Zu dieser Zeit kam Horst nur mehr sporadisch zu Besuch, und seine Mutter distanzierte sich zusehends von ihm. Endlich erkannte sie, dass sie diesen Mann nicht brauchte, und verließ ihre alte Heimat, ohne ihn darüber in Kenntnis zu setzen. Wenn auch nur vorübergehend.
Jakob Primm erzählte seiner Mutter damals kein Wort davon, dass es sich bei Margareten um ihren Heimatbezirk handelte. Er amüsierte sich darüber, dass er dorthin ziehen würde, wo er ihr näher war denn je. Auch wenn sie längst nicht mehr dort wohnte, versprühte die Gegend immer noch den Geist der Schriftstellerin.
Wien war eine herausragende Stadt. Eine Metropole, in welcher man Anonymität genießen konnte, doch klein genug, um Ruhe zu finden. Jakob liebte Wien. Er verabscheute es, auf der Straße gegrüßt zu werden und sich beobachtet zu fühlen. Selbst wenn er hier sterben würde, bemerkte es niemand.
Anders in Tattendorf, wo die Nachbarn genau im Bilde darüber waren, was bei ihm zu Hause passierte – nicht nur aufgrund des hohen Geräuschpegels, sondern vorwiegend wegen der häufigen, eindeutig sichtbaren Verletzungen im Gesicht seiner Mutter.
Die Wetterlage änderte sich massiv im Laufe des Nachmittags. Zunächst begann es zu regnen, bis es schneite und stürmte. Ein Unwetter wie dieses ließ er gerne von klassischer Musik begleiten. Seiner Meinung nach passte der Niederschlag perfekt zu den melodiösen Klängen aus dem Radio. Er öffnete dann die Fenster und genoss die beiden völlig unterschiedlichen Rhythmen. Regen hatte für ihn etwas Befreiendes, so als würde sich in diesem Moment die geballte Kraft angestauter Spannung entladen. Was er allerdings nie machte, war, bei so einem Wetter seine eigenen vier Wände zu verlassen. Sein Heim stellte für ihn eine Art Rettungsinsel dar. Egal was passierte, seine Wohnung war sein Zufluchtsort, sein Ein und Alles und seine Rückzugsmöglichkeit.
An jenem Abend sollte es anders sein. Um 18:00 Uhr verließ Jakob Primm sein Wohnhaus und fühlte sich wie getrieben von etwas Unbekanntem auf dem Weg durch die Nacht. Es war dunkel. Das Unwetter verdüsterte die Stimmung zusätzlich, die seiner Vorstellung nach einem Weltuntergang glich. Doch draußen wartete etwas auf ihn, das er nicht verpassen durfte. Die Frau, die seine gesamte Wohnung erfüllte, obwohl sie nie dort gewesen war. Die Person, die auf seinem Porträt im Wohnzimmer verewigt zu sein schien, obwohl sie es vielleicht gar nicht war. Das Bild glich ihr jedoch so detailgetreu, dass es durchaus möglich war, R.B. hatte damals Paula vor sich sitzen gehabt.
Paula Hogitsch. Die Erfolgsautorin. Jakob Primms Angebetete, die er seit vielen Jahren verehrte. Ein Grund mehr, seine Mutter nicht zu vermissen. Sie gewann ihren Romanen nichts ab und scherte „Geschichten wie diese“ alle über einen Kamm. Doch Paulas Bücher waren anders. Er liebte ihre Art des Suspense-Krimis, die geistreicher war als herkömmliche Kriminalgeschichten. Sie schaffte es, ihn mit ihren Werken, seit Kurzem 14 insgesamt, immer wieder zu begeistern. Sie war in der Lage, ihn in Angst zu versetzen und Mitgefühl für den Mörder zu erwecken. Sie blickte tief in die Psyche von Verrückten und charakterisierte ihre fiktiven Figuren, als ob sie reale Menschen beschrieb. Paula Hogitsch war in seinen Augen außergewöhnlich. Er betete sie an und konnte sich ein Leben ohne ihre Werke nicht mehr vorstellen. Er hoffte darauf, sie an diesem Abend in einer roten Bluse bewundern zu dürfen.
Monate zuvor waren ihr neuer Roman und die dazugehörende Lesung in Wien Mariahilf angekündigt worden. Über Ereignisse wie diese informierte man die Bewohner des angrenzenden Bezirkes durch Prospekte, die an jeden Haushalt geschickt wurden. Er hasste beliebige Zusendungen und beabsichtigte schon lange, ein Zustellverbot an alle zu verhängen, die es wagten, ihn über Nichtigkeiten in Kenntnis zu setzen, die keinerlei Relevanz für ihn hatten. Das Einzige, das ihn begeisterte, waren Informationen über die Autorin und wann sie in Wien Lesungen veranstaltete. So unterließ er die Werbemittelbeschränkung und nahm zahlreiche an seinen Haushalt adressierte Zusendungen in Kauf, bis wieder etwas über ihre Person ins Haus flatterte.
Gleich als er das Prospekt erhalten hatte, das ihr Gesicht zeigte und Buchtitel, Ort und Zeit der Lesung sowie die ersten paar Sätze des neuesten Krimis beinhaltete, holte er ihre 13 vergangenen Romane aus seinem Regal. Es stellte ein lieb gewordenes Ritual dar, sich jedes Mal vor einer Lesung in ihre alten Werke einzuarbeiten. Gesetzt den Fall, die Diskussion im Anschluss an den Vortrag führte einmal zurück in ihre früheren Romanwelten, wollte er gerüstet sein und handelnde Personen und den Plot stets abrufbereit im Kopf haben. Er wusste zwar, dass er alles längst memoriert hatte, war aber nicht gewillt, ein Risiko einzugehen.
Als er zum ersten Mal diese markante Erscheinung mit dem aufgesteckten Haar, den großen Augen, roten Lippen und feingliedrigen Händen mit den dunkelroten Fingernägeln wahrnahm, war ihm bewusst, ihr verfallen zu sein. Paula hatte damals ihre allererste Lesung bei der Buchhandlung Thalia auf der Mariahilfer Straße im 6. Bezirk abgehalten. Er war nur zufällig vor Ort gewesen, aber geblieben, da ihn nie zuvor jemand so gefesselt hatte wie die Schriftstellerin.
Sie gehörte zu jener Sorte von Jungautoren, die nicht lange genötigt waren, um einen Verlag zu kämpfen, sondern im richtigen Augenblick die richtigen Menschen kennenlernte. Paula war begabt, und ihr Potenzial erkannten Verleger sofort. Im Alter von 24 Jahren schaffte sie etwas, wovon andere Autoren ihr Leben lang träumten.
Jakob Primm hatte damals keine Ahnung, wer sie war, beabsichtigte aber, alles über sie herauszufinden. Seit dieser Entscheidung waren 19 Jahre vergangen.
Kapitel 2 – Die Entscheidung
August 2008
Ihr Wecker läutete. Sie musste ihre Tabletten nehmen, das spürte sie im Kopf, im Herzen und in den Beinen. Sie fühlte sich abscheulich und sah auch so aus. Vor dem Einschlafen hatte sie gerade noch ihr Buch weglegen, aber kein Eselsohr mehr auf die letzte gelesene Seite machen können, wie gewöhnlich, bevor sie es auf ihrem Nachtkästchen deponierte. Am Tag zuvor war das unmöglich gewesen. Sie war matt. Jeder Muskel und Knochen in ihrem Körper bestätigte diese Empfindung. Sie kam sich alt und kraftlos vor. Ihre Krankheit war real.
Sie hörte Frank Kaffee kochen und Karola und Jasmin das Haus verlassen. Würde sie es wahrhaftig nicht miterleben, wie die Kinder die Universität absolvierten und einen Beruf ergriffen? Der Gedanke daran trieb ihr Tränen in die Augen, die sie zu ignorieren versuchte. Die Krankheit gab es nicht, solange sie sich nicht mit ihr auseinandersetzte. Sie existierte nicht, wenn sie die Gutgelaunte und Gesunde mimte. Der Krebs war unerwünscht im Hause Hogitsch.
Paula machte sich frisch, so gut es ging, jedes Mal wieder dankbar dafür, das Badezimmer direkt vom Schlafzimmer aus betreten zu können. So war es ihr möglich, ihr desolates Aussehen morgendlich in Ordnung zu bringen, bevor sie ihrer Familie gegenübertrat. Erstaunlich, wie leicht sich Frank und die Kinder täuschen ließen. Ihr Talent, Menschen auferstehen zu lassen, befähigte sie offenbar dazu, sich selbst zu verwandeln und traurige Tatsachen geschickt vor anderen zu verbergen.
„Es duftet wunderbar“, flüsterte sie, während sie ihrem Ehemann