Höfliches Klatschen füllte den Raum, nachdem die Sängerin die Bühne verlassen hatte. Sodann betrat eine junge, zierliche Frau die Bühne, stellte sich an den Kontrabass und stimmte leise auf Französisch „Autumn leaves“ an und verzauberte Nora und die anderen Gäste mit ihrer Darbietung.
Mit Mike verstand sich Nora auf Anhieb, und sie plauderten angeregt. Er erinnerte sie an ihren alten Schulfreund Sepp aus München, der die gleichen spitzbübischen Augen hatte und mit dem sie viel Zeit verbracht hatte. Einmal, als sie zwölf Jahre alt waren, schrieben sie auf kleine Zettel: „Kohl muss weg, hat kein Zweck“, und verteilten diese munter in die Briefkästen der umliegenden Nachbarschaft. Dieses politische Engagement hinderte sie aber nicht daran, sich auf einer CSU-Wahlveranstaltung hungrig mit Würstchen vollzustopfen.
Nora wurde unruhig, da sie gleich an der Reihe sein würde, aber vor allem, weil ihr die Menschenmassen zu schaffen machten. Sie zählte die Birnen in den Leuchtleisten, konnte aber keine Erleichterung erreichen. Ihre unkontrollierbaren Gedanken nahmen erneut von ihr Besitz. Was wäre, wenn ein Einbrecher käme und Isa bellte und ihr etwas zustieße ...?
„Aller guten Dinge sind drei,
sagten drei kleine Dreikäsehoch
und kauften drei Brote,
Schwarzbrot, Graubrot, Weißbrot,
bevor sie sich dreimal bekreuzigten“, murmelte sie leise vor sich hin und bekreuzigte sich dreimal.
„Was hast du?“, fragte Mike. „Wieso bekreuzigst du dich?“ Er legte seine Hand auf ihren Arm und schaute sie an.
Nora antwortete nicht. Jetzt musst du dreimal bis dreißig zählen, und dann wird alles gut, dachte sie und zählte, während eine weitere Sängerin „Cry me a river“ sang, was aber nur wie durch eine dicke Nebelwand zu ihr durchdrang.
Sie wiederholte den Vers wie ein Mantra, zählte dreimal bis dreißig und spürte, wie die Anspannung von ihr abließ und sie ruhiger wurde.
„Mann, Nora, du bist aber echt schräg drauf“, sagte Mike und schaute sie an. „Wirst du heute auch singen?“, wechselte er das Thema und deutete auf ihre Noten.
Nora antwortete nicht und blätterte nervös durch ihre Sheets, während sie die Band betrachtete, die professionell ein Lied nach dem anderen interpretierte und vergnügt zu sein schien.
Sie nahm ihren Mut zusammen, stand ruckartig von ihrem Stuhl auf und betrat den Musikern zugewandt die Bühne. So bemerkte sie nicht, wie sich Mike konzentriert seinem Handy zuwandte.
Dann wollen wir mal schauen, dachte er, wie wir den Trojaner auf dein Handy kriegen ... Mmmh, wo ist deine MAC-Adresse ...
Schnell fand Hummel in seinem Gerät die Kennung 00-60-63-mr-kw-4r, die Adresse, die er vor wenigen Tagen bei Nora mittels WLAN-Sniffing identifiziert hatte. Dazu musste er sie mit seiner Technik bloß eine Weile begleiten. Eigentlich ganz simpel.
Wie schön, du machst es mir einfach, Bluetooth ist aktiviert. Hummels Finger tippten ein letztes Mal über das Display.
So, dieser kleine Trojanerfreund ist für dich, liebe Nora. Nach nur wenigen Minuten hatte Hummel Noras Handy erfolgreich angegriffen.
Mit geschlossenen Augen stand Nora auf der Bühne und sang. Die Zuhörer hatte sie in ihren Bann gezogen, und sie selbst war zu Gast in einer Klangwelt, in der die Musik und die Geschichte des Songs ihren Körper vollständig durchdrangen. Auch Mike hörte dem Rest des Songs zu und ließ sich von der Musik davontragen. Ja, für einen Moment hatte er vergessen, warum er hier war, und ihn überfiel ein schlechtes Gewissen.
Als die letzten Noten verklungen waren, nahm Nora mit geöffneten Augen den Applaus ihres Publikums entgegen. Sie lächelte, bedankte sich bei den Musikern und der Pianistin Julia Berend per Handschlag und plauderte noch eine Weile mit Mike Hummel, bis es fast Mitternacht wurde. Am Ende des Abends sang sie noch für die letzten drei hartgesottenen Clubgäste und Mike Hummel „Will you still love me“ von Carol King, verabschiedete sich von ihm und fuhr, erfüllt von dem Abend, mit dem Song „Thank you for the music“ im Ohr nach Hause. Am scheensten is‘, wenns schee is‘, dachte sie und schlief beseelt ein.
Mike Hummel trat als Letzter aus der Clubtür, zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte seine WhatsApp-Nachricht an seinen Kontaktmann Röpke.
Der Adler ist gelandet!
***
Als sich am frühen Sonntagmorgen im Volkspark langsam der Nebel hob und die aufgehende Sonne den gefrorenen Boden erwärmte, reckte sich auf einem Hügel eine mehrere Hundert Jahre alte Eiche mit ihren knorrigen Zweigen dem stahlblauen Himmel entgegen. Durchbrochen wurde die Stille durch das Plaudern und Lachen einer kleinen Rentnergruppe. Deren Kursleiter Rene Schmitz, ein rüstiger älterer Herr mit einem langen weißen Zopf und einer braunen Wollmütze, die mit dem Logo des FC St. Pauli verziert war, legte seinen Rucksack beiseite und ließ die Holzstöcke für die Teilnehmer scheppernd zu Boden fallen. Hastig verließ er die bewegungshungrige Rentnergruppe, die sich noch auf den Kursanfang vorbereitete und die schweren Winterjacken gegen leichtere, wärmende Sportjacken austauschte. Der Kursleiter bestieg den Hügel zur alten Eiche, passierte den in die Jahre gekommenen Baum und trat an eine dichte Strauchreihe, um sich, vor neugierigen Blicken geschützt, zu erleichtern. Selig blickte er in die Ferne, während er seine Notdurft verrichtete. Am Ende stellte er sich kurz auf die Zehenspitzen, schüttelte seinen Arm und verpackte mit einem leichten Hüftschwung sein Geschlechtsteil in seiner Sporthose. Während er seine Kleidung ordnete, drehte er sich um, lief einige Schritte in Richtung der knorrigen Eiche, an der er die auf dem Boden abgelegte Leiche von Denis Berend erblickte. Am Stamm des Baumes war dessen Kopf so drapiert, dass Schmitz ihm direkt auf den aufgeschnittenen Hals schauen konnte. Der Tote war nackt und blass. Nur seine Hüften waren durch einen rosafarbenen Rock bedeckt. Schmitz riss die Augen weit auf und starrte auf seine Entdeckung. Nach einer Weile, ihm kam es wie eine Ewigkeit vor, fiel sein Blick auf eine auf dem Schoß platzierte und an den Oberkörper der Leiche angelehnte Leinwand, die rot beschrieben war. Er las die Zeilen mehrmals, als würde er dadurch besser verstehen können, was dort zu lesen war. Schließlich begann er den Text leise vor sich hin zu murmeln:
„Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe
es euch für den Altar gegeben. Denn das Blut ist es,
das durch Leben Versöhnung erwirkt. Im Blut war die
Seele und Gott beansprucht die Seele.
3. Mos. 17/11.
Auf dass ihr euch Gott wieder nähern könnt!“
Schmitz führte seine Hand in die Hosentasche, kramte nach seinem Handy und drückte hektisch die Tasten. Am anderen Ende hörte er die verschlafene Stimme seines Freundes.
„Mensch, Rene, wie spät ist es? Ich hab frei. Wieso weckst du mich so früh? Ist etwas passiert?“, erkundigte sich sein Freund mit müder Stimme.
„Hör zu! Halt dich fest. Ich habe hier eine Leiche entdeckt, ganz übel zugerichtet, mit einem Bibelspruch versehen. Ich ruf gleich die Polizei an, aber ich dachte, für dich wäre das ein schönes Foto zu einer guten Geschichte. Passiert ja nicht alle Tage. Schnapp’ dir deine Kamera, beweg deinen Hintern und komm zu der Eiche, an der ich immer den Tai-Chi-Kurs mache!“
Peter Hemmlos vom Hamburger Tagesblatt machte einen Satz aus dem Bett, sprang hüpfend in die am Abend zuvor auf den Boden geworfene Hose, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem lauten „Rums“ zu Boden, sodass er befürchtete, dass sich seine ewig nörgelnde Nachbarin sicher bei passender Gelegenheit wieder beschweren würde.
Hemmlos rappelte sich auf, zog sich an, griff mit links seine Kamera, mit rechts seine Jacke und rannte zu seinem Auto.
Keuchend und außer Atem erreichte er die Eiche und registrierte erleichtert, dass die Polizei noch nicht erschienen war. Allerdings stand das Rentnergrüppchen, das sich nicht entgehen lassen wollte, den Grund für den Kursausfall näher zu betrachten, im Halbkreis vor der Eiche. Einer der Kursteilnehmer trat aus der Poleposition