Pünktlich um 7:30 Uhr, auf dem Weg zur Kita, rief Martin an. Chefredakteur Martin Brandt hatte auch eine kurze Nacht hinter sich oder wie oft gar nicht geschlafen, schloss sie aus seinem Tonfall.
»Das geht gar nicht!«, wies er sie zurecht, statt zu grüßen. »Was hast du dir dabei gedacht? Willst du einen veritablen Bürgerkrieg anzetteln?«
Veritabel war eines seiner Lieblingswörter. Es bewirkte, dass selbst ruppige Anschuldigungen irgendwie leichtfüßig daherkamen. Sie grinste unwillkürlich.
»Wovon sprichst du?«
»Wie immer vom Wetter. Mein Gott, wovon spreche ich wohl? Von deinem Bericht über das Massaker in Aachen, was sonst?«
»Doppelmord«, korrigierte sie, »und es ist erst der Entwurf, entstanden auf der Fahrt nach Köln zu später Stunde.«
»Das merkt man. Wann erweist du uns die Ehre, hier aufzukreuzen?«
»Ich muss nur noch Tim in die Kita fahren …«
Er hatte aufgelegt. Der Betrieb in der Redaktion der Abendzeitung unweit der Domplatte brummte am frühen Morgen. Das Zebra schlug heftig auf die Tastatur ein, hatte kaum Zeit, sie zu grüßen. Es gab keine bessere Bezeichnung für ihre Tischnachbarin, denn sie hatte sie noch nie in einem Kleid ohne Zebramuster gesehen. Etwas weiter weg saß Peter mit seinem ewig roten Pullover. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und deutete genüsslich auf die Sauna, den Glaskubus, wo Martin residierte. Der pochte eben mit einer seiner Krücken an die Scheibe. Es eilte. Peter grinste. Er hasste sie. Sie betrat das Glashaus.
»Tür zu!«
Kurze Befehle entsprachen Martins normalem Umgangston in der Redaktion. Die Tür der Sauna zu schließen aber bedeutete nicht nur physischen Stress wegen der Hitze, sondern vor allem Ärger.
»Ich weiß, ich habe mich vielleicht etwas pointiert ausgedrückt im Bericht«, versuchte sie ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Pointiert trifft den Sachverhalt ja wohl überhaupt nicht«, herrschte er sie an. »Dein Subtext unterstellt nichts weniger als eine veritable Verschwörungstheorie. Du weißt es, und dir muss klar sein, dass wir das unmöglich so veröffentlichen können.«
Sie wunderte sich, seit wann die Leser der Abendzeitung Subtext lasen, sagte aber nichts. Er war der Chef und verfügte über so viele Jahre Erfahrung im Geschäft, wie sie auf der Welt war.
»Du störst dich an der Verbindung mit den Geheimverhandlungen«, vermutete sie.
»Allerdings! Ich weiß, dass dir das Thema am Herzen liegt, und gebe zu, dass deine Reportage darüber die Auflage glatt verdoppelt hat. Aber findest du es nicht ein wenig weit hergeholt, den Mord am Lobbyisten Scholz in Aachen damit zu erklären?«
Sie lachte trocken auf. Er übertrieb wieder maßlos.
»Ich erkläre doch gar nichts in meinem Artikel. Ich stelle lediglich die Facts zusammen. Du kennst die heftige, um nicht zu sagen explosive Reaktion im Netz und in den Medien, als wir die geleakten Mails aus dem Kanzleramt veröffentlichten. Es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, eine Welle der Entrüstung sei durchs ganze Land gegangen, als publik wurde, dass unsere Regierung insgeheim ein bilaterales Freihandelsabkommen mit China plant – von der Entrüstung in Brüssel gar nicht zu sprechen.«
Die letzte Bemerkung wischte er vom Tisch wie eine lästige Fliege. Die Bürokratie in Brüssel und der kaum mehr zu bewegende Moloch EU ärgerten ihn jeden Tag aufs Neue.
»Dass mit dieser EU kaum je wieder ein Freihandelsabkommen zum Fliegen kommt, darüber müssen wir uns nicht streiten«, brummte er.
Sie konnte nur zustimmen. Deshalb verstand sie es, wenn dem Kanzleramtsminister der Kragen platzte und er vorpreschte, um zu versuchen, langfristig wirtschaftlichen Erfolg und Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Das war jedenfalls der Plan mit dem Freihandelsabkommen, nahm sie an.
»In der aktuellen, aufgeheizten Stimmung wirkt leider schon das Wort Freihandel in unserm Land wie ein Brandbeschleuniger«, warf sie ein.
»Sicher, absolut einverstanden, aber du spekulierst jetzt, der Mord an Scholz wäre eine veritable Eskalation dieser Anti-Freihandels-Bewegung.«
Hatte sie sich so unklar ausgedrückt im Entwurf von letzter Nacht? Hatte er den Text überhaupt richtig gelesen? Sie verwahrte sich entschieden gegen die Unterstellung.
»Von spekulieren kann keine Rede sein, Martin. Du kennst doch die Reaktion in den sozialen Medien, auf Facebook und Twitter. Ich muss dich nicht an die Horror-Meldungen auf Twitter erinnern.«
Bevor er etwas erwidern konnte, hielt sie ihm das Display ihres Smartphones unter die Nase. Die Hetze im Netz ging auch nach dem Tod des Lobbyisten Scholz unvermindert weiter, was Martin veranlasste, den veritablen Mist trotz seiner Abneigung zu lesen.
Die Geschworenen @jury12
#PlayboyScholz sorgt für Billigimporte aus China. Wir Geschworenen sorgen für Deutschland.
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Deutscher Meister @deutschmeister
#PlayboyScholz ist tot. #ChinaFH ist tot. Es leben die Geschworenen. Gratuliere!
Die Geschworenen @jury12
#PlayboyScholz richtet keinen Schaden mehr an. Wir Geschworenen bleiben dran.
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Dirk Saubermann @dirk74
Die Geschworenen sind cool. Endlich sorgt jemand für Ordnung in diesem Land!!
Wolfi Ziehrer @wolferl
Wurde auch Zeit, dass einer den Saustall ausmistet! Fuck #ChinaFH!
Alex Kissin @kissalex
Kahlschlag der deutschen Wirtschaft gerade noch gestoppt. #PlayboyScholz verrotte in der Hölle!
Er scrollte einige Seiten weiter, bevor er das Handy über den Tisch zurückschob und sich vor Abscheu schüttelte.
»In was für einer Welt leben wir eigentlich?«, fragte er leise.
Sie reagierte mit der Gegenfrage:
»Hast du die Zahlen gesehen?«
»Die Tausende Retweets und Likes? Sicher, sieht ganz danach aus, als würde das Twitter-Volk jetzt komplett durchdrehen.«
»Dieser jury12 scheint die mysteriösen Geschworenen zu repräsentieren. Er – oder sie – hat die Hetze gegen den Lobbyisten orchestriert und ist seither äußerst beliebt. Jury12 hat bereits mehr Follower als der Kanzleramtsminister. Ich muss jury12 finden.«
»Viel Glück.«
Ein bitteres Lächeln huschte dabei über seine Lippen. Er glaubte nicht daran, dass sie das Geheimnis der Identität von jury12 je lüften würde.
»Wenn wir diesen jury12 finden, werden wir auch erfahren, wer die Geschworenen sind und wer wirklich hinter den Morden in Aachen steckt.«
Er schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich, ob du deinen Beruf verfehlt hast, Julia. Du solltest bei der Polizei arbeiten.«
»Um mich mit Kollegen wie diesem Fischer herumzuärgern?«, brauste sie auf. »Da ziehe ich dich und den roten Peter doch lieber vor.«
»Vielen Dank auch«, lachte er. »Das