»Möglicherweise hängt diese Hinrichtung mit der Hetzkampagne im Netz gegen Herrn Scholz zusammen.«
Widerwillig trat Jupp zur Seite, um den Bestattern mit dem Sarg auszuweichen.
»Welche Hetzkampagne? Netz? Ich verstehe kein Wort.«
Statt zu antworten, zeigte ihm die Kollegin eine Reihe Tweets auf dem Handy, die unter anderem die Eliminierung des Schmarotzers Scholz forderten. Jupp lachte trocken auf.
»Das ist doch Kinderkram. Kein Mensch nimmt den Quatsch ernst.«
»Scheinbar doch«, widersprach Fischer.
Trotz der spöttischen Bemerkung schien der Staatsanwalt einigermaßen verunsichert. Die Gelegenheit war günstig, auszusprechen, was er vorher nicht gewagt hatte.
»Der Typ, der den Mord am Antiquar gemeldet hat, spielt möglicherweise eine Hauptrolle in dieser Hetzkampagne, Jupp.«
»Der Hacker von gegenüber? Wundern täte es mich nicht. Gibt es irgendwelche Beweise gegen den Mann?«
»Um die zu finden, müssten wir seine Wohnung durchsuchen, den Computer beschlagnahmen.«
»Ihr wollt einen Durchsuchungsbeschluss auf dieser dürftigen Beweislage? Der Richter würde mich auslachen, dann müsste ich dich erschießen. Willst du das, Tom?«
»Verdammt! Phil Schuster tobt als Philister auf Twitter gegen unser Mordopfer. Das ist doch kein Zufall.«
»Er hat also zugegeben, dieser Philister zu sein?«
Das Schweigen im Boudoir war unerträglich. Jupp wandte sich ab.
»Bringt mir einen Beweis, dann habt ihr euren Durchsuchungsbeschluss«, murmelte er beim Verlassen der Wohnung.
Nach dem Staatsanwalt flüchtete auch er und versuchte, sich ungesehen davonzustehlen wie Phantom Harry. Es half nicht. Draußen überfiel ihn eine Meute Zeitungsfritzen, allen voran die blonde Bitch von der Kölner Abendzeitung. Der Scheinwerfer des Lokalfernsehens folgte ihm auf Schritt und Tritt, als wäre er auf dem Weg ins Dschungelcamp.
»Herr Hauptkommissar, können Sie den Mord an Albrecht Scholz bestätigen?«, rief ihm die Bitch ins Ohr, als stünde er in Köln statt neben ihr.
Er wehrte mit beiden Händen ab. »Ich habe nichts zu sagen. Wir stehen ganz am Anfang der Ermittlungen.«
Julia Hahn ließ nicht locker. »Es gab heute Abend zwei Todesfälle in diesem Haus. Wer sind die Opfer, und gibt es einen Zusammenhang?«
Natürlich gibt es einen Zusammenhang, dumme Kuh, dachte er schwitzend. Laut sagte er mit schlecht unterdrückter Erregung in der Stimme:
»Wenden Sie sich bitte an die Pressestelle. Sie kennen doch das Prozedere, Frau Hahn.«
Er dachte, es überstanden zu haben, als ihn der Hammer traf.
»Stimmt es, dass die Geschworenen mit weiteren Morden drohen?«, rief ein junger Mann aus der dritten Reihe, den er nicht kannte.
Die Frage jagte das Blut durch seine Adern, dass er glaubte, es rauschen zu hören wie den Rhein bei Hochwasser.
»Woher wissen Sie …«
Es entglitt ihm einfach. Erschrocken presste er die Lippen zusammen und nahm den Mann ins Visier, als wollte er ihm im nächsten Atemzug ein drittes Auge verpassen. Rundherum herrschte plötzlich gespenstische Stille. Die versammelte Presse hing an seinen Lippen, als wäre er im Begriff, den nächsten Karnevalsprinzen anzukündigen. Da er eine oder zwei Sekunden zu lange schwieg, flüsterte ihm die Bitch mit hämischem Grinsen ins Ohr:
»Sie kennen doch das Internet, Herr Fischer.«
Er stieß sie unsanft beiseite und eilte davon.
Köln
Der letzte Glockenschlag vom Dom verklang, als Julia Hahn die Tür zu ihrem Penthouse aufstieß. Mitternacht. Emma tat ihr leid. Die Tochter der Nachbarn unter ihr war ein zuverlässiges und liebevolles Kindermädchen und fast zu jeder Tages- und Nachtzeit für den kleinen Tim zu haben. Dennoch betrat sie das Wohnzimmer mit schlechtem Gewissen. Sie überforderte die junge Frau durch ihre häufigen Einsätze zu unmöglichen Zeiten.
»Tim schläft selig«, beruhigte Emma, bevor sie ein Wort sagen konnte.
Sie schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Was würde ich nur ohne dich machen.«
Trotz Emmas Bemerkung schlich sie ins Kinderzimmer, strich ihrem Tim übers goldene Haar und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. Es war das übliche Ritual. Emma kannte es und wartete geduldig auf ihre Rückkehr, um sich zu verabschieden. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck machte sie stutzig.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie unruhig.
Emma zögerte. »Ja – sicher.« Nach einem Schritt Richtung Tür blieb sie stehen. »Es ist nur …«
»Immer raus mit der Sprache.«
Die junge Frau sah sie an, als hätte sie ihren Sohn gestohlen.
»Du machst mir Angst, Emma.«
Schließlich platzte sie mit der Hiobsbotschaft heraus.
»Ich werde bald nicht mehr da sein.«
Sie war auf alles Mögliche gefasst, nur nicht darauf.
»Was heißt das?«, fragte sie bestürzt.
Dabei zwang sie sich zu lächeln, was wohl gründlich misslang. Emmas Wangen röteten sich.
»Man hat mich angenommen, Stanford. Nach den Ferien geht›s schon los.«
Julia glaubte, innerlich zu zerreißen. Emma gehörte zu ihrer kleinen Familie wie eine eigene Tochter. Dass sie es geschafft hatte, an der amerikanischen Elite-Uni studieren zu dürfen, erfüllte sie mit Stolz. Gleichzeitig konnte sie sich ein Leben ohne Emmas gute Dienste und ihr fröhliches Lachen kaum vorstellen. Sie verdrängte die Ungewissheit, was ohne sie aus Tim werden sollte, und schloss sie in die Arme.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Emma. Das ist – großartig! Herzliche Gratulation. Ich bin fast ein wenig neidisch, habe ich es doch nur an die Uni Köln geschafft.«
Beide brachen in befreiendes Gelächter aus.
»Wir müssen das feiern«, versprach sie, »aber nicht heute Nacht.«
»Nein«, seufzte Emma erleichtert. »Du wirst sicher wieder jemanden finden für unseren Tim.«
Mit diesem zweifelhaften Trost verließ sie die Wohnung. Julia starrte die Tür noch lange an, nachdem sie ins Schloss gefallen war. Klar gab es andere Kindermädchen in dieser Stadt aber keine zweite Emma. Sie füllte das Rotweinglas etwas großzügiger in dieser Nacht, bevor sie auf die Terrasse hinaustrat. Der Blick über den schwarz glänzenden Rhein, in dem sich die Bäume der Riehler Aue noch schwärzer spiegelten, beruhigte. Sie brauchte Zeit, um herunterzukommen. In einer Nacht wie dieser würde sie wohl vor morgens um zwei kein Auge schließen. Auch eine Journalistin an vorderster Front bei der Kölner Abendzeitung berichtete kaum je, wenn überhaupt, über einen Doppelmord. Über einen Doppelmord, dem möglicherweise bald weitere Gräueltaten folgen würden. Das Glas leerte sich überraschend schnell. Sie goss nach.
Morgens um halb sieben kroch Tim in ihr Bett. Alle andern Wecker hasste sie, diesen aber liebte sie über alles auch ohne Musik. Sie drückte ihn und gab ihm einen Kuss, bemüht, die Augen wenigstens halb offen zu halten. Ein Vierjähriger ließ sich das noch gefallen.
»Bist du müde, Mama?«
»Nein«, log sie, »bloß glücklich.«
Die Morgensonne strahlte über den Spiegel direkt in die Dusche, was ihr trotz des Brummschädels ein Lächeln entlockte. Sie hatte allen Grund, zufrieden zu sein mit ihrem Leben. Dennoch oder gerade deshalb beschlich sie hin und wieder das Gefühl, das alles nicht verdient