Helbling erbleichte. »Was soll das heißen?«
»Genau das, Professor. Die Daten sind zuwenig aussagekräftig. Die Randbedingungen waren zuwenig spezifisch. Mein Fehler. Wir brauchen mehr Zeit …«
»Was zum Henker fällt Ihnen ein?«, brauste Helbling auf. »Der VR erwartet die Resultate heute Nachmittag. Die Zeit ist abgelaufen!«
Die Adern an seinen Schläfen schwollen an wie die Stimme. Die Fische wagten sich nicht mehr aus ihrem Versteck. Professor Helbling echauffierte sich dermaßen beim Gedanken, den Verwaltungsrat enttäuschen zu müssen, dass Jonas um Basels Zukunft bangte. Natürlich war der Fehler des bedauernswerten Lehrlings ärgerlich und teuer, aber mit ähnlichen Rückschlägen musste man in der Forschung immer wieder rechnen. Das wusste auch Helbling, und früher oder später würde er den Vorfall vergessen, hoffte Jonas.
»Ich erwarte Sie in meinem Büro, Dr. Herzog«, knirschte Helbling, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
Die folgenden zehn Minuten in Helblings Büro gehörten zu den anstrengendsten in Jonas’ bisherigem Leben. Noch nie hatte er in so kurzer Zeit so viele Lügen erfinden müssen. Das kostete eine Menge Energie. Er brauchte dringend frische Luft und etwas zwischen die Zähne, als er den Ort des Schreckens verließ.
»Johanniter? «, fragte er nur, als Rohner ihn nervös anblickte.
Wortlos verließen sie das Haus, schlenderten ein Stück den Rhein hinauf, in die Seitengasse, wo der Italiener seinen Laden hatte, in dem er und seine Mamma seit jeher jedes Sandwich frisch vor den Augen des Kunden erschuf. Die beiden Stammkunden mussten nur nicken und erhielten das Übliche: Semmel mit frisch geschnittener Mortadella und Essiggurke für Jonas, Baguette mit Thunfischsalat für Rohner, dazu zwei ›Blöterliwasser‹. Erst auf der Bank unter der Johanniterbrücke hielt Rohner es nicht mehr aus.
»Bekommen wir einen neuen Chef?«, fragte er mit gequälter Ironie, die nicht zum besorgten Blick passen wollte.
Jonas unterdrückte ein Lächeln, antwortete stattdessen mit einem schweren Seufzer: »Soso, hat es sich also schon herumgesprochen.«
Der Bissen fiel Rohner aus dem Mund. »Scheiße!«, rief er bestürzt und starrte ihn entsetzt an.
»Wusste gar nicht, dass Sie auch richtige Schimpfwörter drauf haben«, grinste Jonas.
»Sie ziehen mich auf.«
»Sicher. Helbling wird sich schon wieder beruhigen.«
Rohner betrachtete sein Baguette misstrauisch, als hätte es ihn betrogen. Dann meinte er leise: »Das war sehr nobel von Ihnen.«
»Was denn?«
»Dass Sie sich vor uns stellten. Helbling hätte dem Stift und mir sonst den Kopf abgerissen. Sehr nobel, Doktor.«
»So schlimm wär’s wohl nicht gekommen«, lachte er, »und vergessen Sie den Doktor.«
Die Knopfäuglein musterten ihn wieder mit dem alten Glanz. Rohner biss nochmals in sein Brot, kaute umständlich, schüttelte dabei ab und zu den Kopf, dann wieder nickte er, als erzählte er sich selbst eine dramatische Geschichte.
»Ich glaube, Rosa hat recht«, murmelte er schließlich.
»Womit?«
»Es ist komisch, uns immer noch zu siezen, obwohl wir fast Tag und Nacht im selben Büro hocken.«
»Wo sie recht hat, hat sie recht«, nickte Jonas. Er streckte Rohner seine leere Plastikflasche entgegen und prostete ihm zu: »Ich bin der Jonas.«
»Niklaus.«
»Also Niklaus, wie kommt es, dass ein waschechter Appenzeller sein Leben ausgerechnet in Basel verbringt?«
»Das – hat sich so ergeben. Ist nicht weiter interessant. Erzähl mir lieber, was Helbling dir an den Kopf geworfen hat.«
Jonas berichtete lachend über die dreisten Flunkereien, mit denen er seine und die Ehre seiner Abteilung einigermaßen gerettet hatte. Die Mittagspause wurde lang und länger. Am Ende wusste Niklaus alles Wichtige aus seinem Leben, dass er früh seine Eltern verloren hatte, bei der strengen Tante in Gossau aufgewachsen war und immer noch keine feste Freundin hatte, mehr noch: Keine suchte. Was erfuhr er über Niklaus? Nichts, was er nicht schon wusste, aber das war nichts Neues. Asymmetrische Beziehungen waren die Norm in seinem Leben. Nicht diese Tatsache hielt ihn in dieser Nacht lange wach in seiner Dachkammer. Auch nicht der anfänglich verletzende Ton Helblings in seinem Büro. Was ihn nicht einschlafen ließ, war die ernsthaft geäußerte Frage des Professors, ob denn die bisher gesammelten Daten der ›BSX10‹-Testreihe nicht ausreichten oder mit etwas gutem Willen geeignet interpretiert werden könnten, um nicht wertvolle drei Monate zu verlieren. Es war eine ziemlich unverblümte Aufforderung zum Betrug. Der erste Riss im Bernoullischen Druckbehälter.
Er verdrängte die Episode bald. Der ordentliche Abschluss der Testreihe und die Vorbereitung der nächsten Phase nahmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. ›BSX10‹ versprach ein Blockbuster zu werden, der erste Cholesterinsenker, den es in optimalen Varianten für jeden erdenklichen Genotypen geben würde. Noch war der Weg lang bis zur Zulassung, aber ›Bernoulli‹ hatte die Nase deutlich vorn in diesem Rennen. Das war mindestens so wichtig wie die Zulassung selbst. Die Arbeit in der Abteilung lief reibungslos. Der Lehrling leistete sich nicht mehr den geringsten Fehler, las ihm jeden Wunsch von den Augen ab, als hinge sein Leben daran, und Niklaus unterhielt ihn wie früher mit seinen träfen Sprüchen.
Nur einmal griff der alte Hase gründlich daneben. Als Kenner Helblings fiel Niklaus die ehrenvolle Aufgabe zu, ein passendes Geschenk zum Sechzigsten des Professors auszusuchen. Am Geld würde es nicht liegen. Die Firma organisierte eine kleine Feier, wie das Rundschreiben die Veranstaltung nannte, bei der sich alles was Beine hatte im Hause ›Bernoulli‹ im großen Auditorium versammelte. Zwei Vertreter des Stadtrats, ältere Semester des ›Daigs‹ wie Helbling, gaben sich die Ehre und das Streichquartett der ›Camerata‹ sorgte mit Gabrieli und Vivaldi für angemessene Stimmung. Dann die feierliche Übergabe: eine sorgfältig edierte antiquarische Erstausgabe des Gesamtwerks von Wilhelm Busch. Helbling nahm das kostbare Geschenk mit säuerlicher Miene entgegen, gab es seiner Vorzimmerdame, die es zu den andern unnützen Dingen auf dem Gabentisch legte, und schickte sich an, eine seiner Basler Episoden zum Besten zu geben.
»Ho, jo wälewäg«, sang Niklaus Jonas kurz darauf ins Ohr. »Dabei war der Herausgeber des Schinkens doch auch ein berühmter Basler. Oder kennt er vielleicht Wilhelm Busch nicht?«
»Ich glaube, Helbling verträgt keinen fremden Humor«, vermutete Jonas ohne jede Ironie.
Die Vorbereitung der klinischen Tests erwies sich komplexer als er angenommen hatte. Es galt, nicht nur die an sich schon anspruchsvollen Schweizer Gesundheitsbehörden zu befriedigen. EU-kompatibel musste jedes Dokument und jeder Handgriff sein. Was sich die Bürokraten in Brüssel an finsteren Winterabenden ausgedacht hatten, ging weit über die Hürden der amerikanischen FDA hinaus, die er bei seiner Arbeit in Boston fürchten gelernt hatte. Was lag näher, als das Bernoullischen Archiv zu durchforsten, um von der reichen Erfahrung früherer erfolgreicher Zulassungsverfahren zu lernen? Nächtelang studierte er Planungsunterlagen, Berichte und Anträge der letzten großen Einführung, die Helbling noch persönlich geleitet hatte. Die Ordner und Kisten mit den Messdaten, chemischen Analysen und statistischen Erhebungen füllten allein ein ganzes Regal im muffigen Keller. Oft zog sich Jonas in dieses Verlies zurück, um ungestört zu studieren. Er wollte verstehen, wie Helbling die Sache angepackt hatte, warum so und nicht anders, bevor er sich mit naiven Fragen blamierte. Zum dritten Mal nahm er sich den Ordner ›RCT-0319‹ vor, der die Dokumente der letztlich für die Zulassung ausschlaggebenden ›randomisierten kontrollierten Studie‹ enthielt. Das neue Medikament und ein Placebo ohne Wirkstoffe wurden nach dem Zufallsprinzip an 1‘800 Patienten erprobt, mit einem Ergebnis, das die Behörden offensichtlich überzeugt hatte. Im Gegensatz zu Jonas. Er übersah es beinahe, weil er nicht danach suchte, aber sein ausgezeichnetes Zahlengedächtnis ließ nicht locker. Zum dritten Mal verglich er die Einzelbelege der