»Was würde denn Ihre Freundin dazu sagen?«
Er kam nicht dazu, die heikle Frage zu beantworten. Im Lautsprecher des Funkgeräts knackte es, dann meldete sich die Einsatzleitung:
»Zentrale an Delta Bravo 42, bitte melden. Zentrale an …«
Die Nummer ihres Wagens. Sie nahm das Mikrofon. »Delta Bravo 42 an Zentrale. DS Hegel am Apparat, was gibt’s?«
»Ein Toter am Hampton Pier, westlich Herne Bay. Die Kent Police ist schon vor Ort.«
»Da sind wir gerade vorbeigefahren«, rief Ron und begann sofort zu wenden.
Diesmal durfte nichts schiefgehen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie das Volk die Spuren zerstörte. Sie sprach hastig ins Mikrofon: »Wir sind ganz in der Nähe, schon unterwegs. Sorgen Sie dafür, dass niemand die Fundstelle betritt. Die lokale Polizei soll nur den Fundort sichern, verstanden? Bieten Sie sofort ein Team der Spurensicherung auf. Und den Pathologen. Die sollen sich, verdammt noch mal, beeilen.«
Ron grinste übers ganze Gesicht, als sie das Mikrofon in den Halter steckte. »Alle Achtung, Sie reden schon wie der DCI«, meinte er.
Sie hörte nicht hin, hatte schon das Telefon am Ohr, wartete ungeduldig auf die Stimme ihres neuen Chefs.
»DCI Rutherford.«
»Sir, DS Hegel hier. Detective Cornwallis und ich sind unterwegs zum Hampton Pier. Man hat dort einen zweiten Toten gefunden, oder vielleicht den gleichen. Wir sind eben von der Zentrale informiert worden. Die Kent Police ist vor Ort.«
Sie hörte ihn etwas Unverständliches brummen, dann antwortete er ruhig: »Sorgen Sie dafür, dass der nicht auch wieder davonschwimmt.«
»Selbstverständlich, Sir. Spurensicherung und Pathologe sind aufgeboten.«
»Davon gehe ich aus«, meinte er trocken. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Damit war das Gespräch beendet.
Wieder grinste Ron. »Der Pathologe wird wahrscheinlich eine Pathologin sein.«
»Wenn schon. Was ist daran so lustig?«
»Sie werden schon sehen. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt, Sergeant – sorry, Chris.«
Ihr Bekannter, Constable Sellick, unterhielt sich am Pier mit einem grauhaarigen Mann. Die zwei Rhomben auf seiner Uniform deuteten darauf hin, dass es sich um seinen vorgesetzten Inspector handelte. Wie sie sofort bemerkte, als sie sich näherten, hatte es Sellick mit zwei Kollegen diesmal geschafft, die Stelle sofort abzusperren, wo der Tote angespült worden war. Nicht einfach an diesem Ort, unmittelbar neben dem Parkplatz an der Esplanade.
»Könnte ein langer Tag werden«, meinte Sellick, als sie sich begrüßten. »Darf ich vorstellen: Inspector Fry vom Siebten in Canterbury.«
Sie gaben sich die Hand.
»Dachte auch nicht, dass wir uns so schnell wieder begegnen«, lachte Chris. »Wie ich sehe, hat man Sie diesmal früh genug alarmiert.«
Inspector Fry schaltete sich ein: »Wenigstens suchen wir kein Phantom mehr. Was ist mit der Spurensicherung?«
»Technik und Pathologie sind unterwegs. Sie werden allerdings nicht vor halb zehn hier sein«, antwortete Ron.
Der Inspector runzelte die Stirn. »Wie ich befürchtet habe«, knurrte er. »Na ja, der Tote wird sich nicht wieder aus dem Staub machen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Stelle.«
Sie hatten kaum zwei Schritte gemacht, als sie laute Rufe von der Absperrung her stoppten.
»Inspector, handelt es sich um den Toten von den Towers?«
»Hat man die Leiche identifiziert?«
»Ist der Mann ermordet worden?«
»Wie ist er gestorben?«
»Zwei Gewaltverbrechen binnen wenigen Stunden! Wie gedenkt die Polizei, die beunruhigte Bevölkerung zu schützen?«
»Hat die Polizei die Lage noch im Griff?«
Inspector Fry lief rot an, als er die Journalistenmeute erblickte. »Wer zum Teufel …« Man hörte förmlich seine Zähne knirschen. »Informieren Sie die Detectives, Sellick. Ich muss mich um die Bluthunde kümmern.«
Er stapfte wütend auf den Mob zu, während Sellick sie zur Leiche führte. »Wir wurden um 19:52 Uhr alarmiert«, erklärte er. »Die Wirtin vom ›Hampton Inn‹ hat uns angerufen. Zwei Zeugen haben gesehen, wie der Körper von der steigenden Flut angeschwemmt wurde. Wir sind um 20:17 Uhr eingetroffen, haben sofort alles abgesperrt.«
»Wo sind die Zeugen?«, wollte Ron wissen.
»Sie warten im Pub. Es ist das Ehepaar Myers. Sie haben die Szene beim Strandspaziergang beobachtet. Die Aussagen sind bereits protokolliert.«
Chris beugte sich zum Toten hinunter, betrachtete ihn eingehend, ohne ihn zu berühren. Es war ein hagerer junger Mann, dunkelhäutig, mit langem, schwarz glänzendem Haar. Inder oder Pakistaner, wie die Phantomleiche. Aber dieser Tote trug zerfetzte Kleider, die einmal königsblau gewesen waren. Hose und Jacke wie ein Spitalpfleger und nichts darunter, wie es schien. »Keine Wunden, soweit ich sehen kann. Erinnert sehr an Ihren ersten Fall von heute Mittag, was meinen Sie, Constable Sellick?«
»Ich meine, er hat sich wohl nicht selbst wieder angezogen, aber nach der Beschreibung könnte es sein Bruder sein. Für mich sehen diese Leute sowieso alle gleich aus.«
Sie richtete sich auf. »Warten wir ab, was die Pathologie dazu sagt.«
Inspector Fry trat wieder hinzu. »Brauchen Sie die Zeugen noch? Ich meine, wir können sie nach Hause schicken.«
»Ich möchte mich nur kurz mit ihnen unterhalten, wenn das O. K. ist.«
Der Inspector zuckte die Achseln.
Eine Welle züngelte bis zu ihren Füssen. Die steigende Flut drohte, den Leichnam wieder fortzuspülen. Ron gab Sellick einen Wink, und gemeinsam zogen sie den Toten näher ans Ufer, ohne seine Stellung zu verändern. Der Constable hielt Wache an der Fundstelle, während sie dem Inspector zum Pub folgten.
Plötzlich blieb Ron stehen und sagte hastig: »Die Anwohner der Küste in der Umgebung müssen noch befragt werden.«
»Stellen Sie sich vor«, schnaubte der Inspector, »daran haben wir auch schon gedacht. Unsere Leute sind seit einer Stunde am Klinken putzen. Die Wasserschutzpolizei ist auch längst informiert.«
»Entschuldigung«, murmelte Ron kleinlaut und trottete weiter.
Die Befragung des Ehepaars Myers ergab nichts, was sie nicht schon wusste. Das hatte sie auch nicht erwartet. Ihr ging es nur darum, die Zeugen einschätzen zu können. Die beiden älteren Leute waren regelrecht erschüttert von ihrer Entdeckung. Sie spielten unmöglich Theater, schloss Chris nach kurzer Zeit. Sie durften mit Bestimmtheit davon ausgehen, dass der Tote tatsächlich durch die Strömung an dieser Stelle gestrandet war.
»Endlich«, rief Ron ärgerlich, als eine Stunde später die ersten Blaulichter vor den Fenstern des ›Hampton Inn‹ auftauchten. Der Wagen des Einsatzleiters parkte vor dem Haus, dahinter der Minibus der Kriminaltechnik. Zuletzt fuhr der Rettungswagen vor. Noch bevor er anhielt, öffnete sich die Tür auf der Beifahrerseite. Eine gertenschlanke Frau im blauen Overall sprang elegant aus dem Wagen. Ihr rotes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie musste mindestens vierzig sein, benahm sich wie dreißig.
»Hoppla, jetzt wird’s spannend«, grinste Ron.
Die berüchtigte Pathologin. In diesem Fall sicher die wichtigste Person am Fundort. Das gleißende Licht der Scheinwerfer flammte auf, blendete Chris für einen Augenblick. Dann folgte sie Ron, der langsam auf die Frau zuging, während der Inspector den Einsatzleiter informierte.
»Guten Abend Dr. Barclay«, grüsste Ron überaus freundlich.