Stern wohnte seit Kindsbeinen an mitten in Antwerpen, an der Rijfstraat im Joodse Buurt, dem jüdischen Viertel, das eingesäumt mit achtunddreissig Synagogen und unweit der Schelde liegt, die seit Urzeiten als Nabel zur Welt gilt.
Seine Eltern hatten ihm das praktische Altstadthaus nach ihrem Tode vererbt, wohl in der Hoffnung, dass er hier traditionell eine weitere Familie gründen und Geschlecht und Handwerk der Sterns weiter erhalten würde.
Geheiratet im eigentlichen Sinne hat Stern zu seinem Leidwesen nie. Er war sich dieser Unvollkommenheit stets bewusst und klagte gelegentlich zu Jahwe. Geheiratet, aber im übertragenen Sinne, hatte Ruben Stern nämlich nur seinen Beruf, den er als eingetragener und lizenzierter Diamantenhändler der Gilde nach deren allgemein verbindlichen Richtlinien und moralischen Grundsätzen pflichtgetreu betrieb. In diesem erlauchten Kreis haben seit Jahrhunderten fast nur Händler jüdischen Ursprungs Zugang. Sozusagen vom Vater auf den Sohn vererbt. Andere, nichtjüdische Händler hatten praktisch keine Chance, in dieser abgeschotteten Gilde Fuss zu fassen.
Antwerpen ist alte Stadt mit viel Kunst- und Traditionsbewusstsein. Spätestens seit den Fünfzigerjahren ist sie zudem Dreh- und Angelpunkt des weltweiten Diamantenhandels. Alleine hier sind vier der neunundzwanzig Diamantenbörsen weltweit angesiedelt. Ruben Stern gehörte den „Beurs voor“ Händlern an, der ältesten Gilde in Antwerpen, und war einer der dreitausend lizenzierten Händler weltweit. Jedes Jahr werden für dreizehn Milliarden Dollar Rohdiamanten geschürft und zwanzig Milliarden Dollar an der Börse umgesetzt. Die Stadt verdankt ihren Reichtum und Bekanntheitsgrad seit Jahrhunderten zum grossen Teil diesem Diamantenhandel und den andienenden Geschäften und Schleifereien, Goldschmieden, Schmuckdesignern sowie unzähligen Zulieferbetrieben.
Ruben Stern wich in punkto Essen auch niemals nur ein Jota von den Glaubensauslegungen der Thora ab. Ja koscher hat halt koscher zu bleiben, und da gibt es eben nur eine Auslegung, nämlich die des Rabbi. Und so konsultierte er in seinem Bezirk denn auch fleissig den einflussreichsten Rabbi Abraham Malinsky, um so stets auf der sicheren Seite zu sein.
Auch geschäftlich lief es bei Stern ausserordentlich gut. Er konnte sich denn auch alle Annehmlichkeiten und Extravaganzen des Lebens erlauben. Für diesen Luxus schuftete er wie ein Irrer an der Börse und bis spät in die Nacht hinein bei sich zu Hause, um optimale Kundenlösungen auszutüfteln.
Heute vor dem Zubettgehen ging ihm durch den Kopf, ob er wohl dieses oder erst nächstes Wochenende nach New York fliegen sollte. Seinen ehemaligen Schulkollegen wollte er treffen, von dem er seit Abitur nichts mehr gehört hatte. Sie hatten sich vor einiger Zeit auf einer Internetplattform bei einem Chat per absoluten Zufall virtuell wieder getroffen. Sie beschlossen, dies nächstens ein wenig zu feiern, und dass Ruben als Erster über den grossen Teich reisen soll. In Vorfreude des Wiedersehens überlegte sich Ruben angestrengt, mit welchem Überraschungsgeschenk er den Kameraden beeindrucken konnte.
„Soll es eine besondere Schweizeruhr oder vielleicht doch lieber ein kleiner Brillantring sein? Es muss ja kein allzu grosser sein, ach nein ach nein! Solch profane Entscheidungen, ach herrje und Jahwe sei dank, muss ich nicht jeden Tag fällen. Oder würde er sich über eine Uhr wohl eher freuen? Uhr oder Ring, oder Ring und Uhr? Ach, ich weiss es einfach nicht.“
Die Gnade des Schlafes übermannte ihn endlich. Ruben schlummerte unruhig. Fetzen seiner täglichen Gedankengänge verfolgten ihn wie Rauchschwaden. Er träumte von ungeheuren Mengen Diamanten, die er an der Börse kaufen müsse. Diesen Auftrag sollte er wieder und wieder ausführen, stets auf Geheiss eines mysteriösen Kunden. Zwischendurch mischte sich das Gesicht von Chaim ins Bild, der ihn ernst und fordernd fixierte:
„Und wage ja nicht dich zu sträuben, du wirst fürstlich bezahlt werden!“, schien ihm das Gesicht von Chaim mit unbewegtem Mund suggerieren zu wollen.
„Du wirst als führender Diamantenhändler in Europa in ungeahnte Sphären hochsteigen!“, und: „Man wird dich, Ruben, auch auf der andern Seite der Weltkugel achten und respektieren. Auf allen Kongressen der Welt wird in Zukunft deine Meinung gefragt sein!“
Stern ächzte und stöhnte im Bett, wand sich von einer auf die andere Seite. Die Zentnerlast auf Brust und Magen wollte und wollte nicht weichen. Und obenauf hockte Chaim, rittlings und mit stattlichem Gewicht, und lachte und lachte mit schallendem, hohlen Echo, und hopste auf ihm auf und nieder und auf und nieder. Wie auf einem Schaukelpferd.
Schweissgebadet erwachte Ruben Stern am frühen Morgen. Stern war schon immer ein schlechter Schläfer. Er hatte sich deshalb angewöhnt, in einem kleinen Nebenraum, seiner Bibliothek wie er dieses Zimmer zu nennen pflegte, zu lesen. Die Kammer war aber beileibe nichts Grossartiges, sie war reichlich heruntergekommen und hätte einen Anstrich bitter nötig gehabt. Der Teppich war löchrig wie ein Schweizerkäse und die Gardinen grau, wie der kommende Winter wohl wieder werden würde.
Für Stern jedoch tat die Kammer ihren Dienst. Vor allem im Winter, da dieser Raum mit kleinem Fenster das am besten beheizte Zimmer im ganzen Haus war und er hier seine chronisch kalten Füsse wärmen konnte. Lesen, das wollte er auch heute, denn, so glaubte er, an Schlaf war eh nicht mehr zu denken.
3
Carl Boromeo erwachte bei anbrechender Morgendämmerung eigentlich wie jeden Tag. Nämlich früh. Die Nacht wollte auch heute nicht abkühlen, es war wieder eine der von ihm so gefürchteten, schwülen Tropennächte und weiss Gott stickig im Raum. Bei geöffnetem Fenster störte ihn nämlich der nächtliche und vor allem morgendliche Berufsverkehr. Ein nicht enden wollender Moloch von Fahrzeugen, deren Besitzer irgendwohin fuhren, wälzte sich durch schlaftrunkene Strassen.
Carl fing an, sich wieder über den langsam anschwellenden Verkehr zu ärgern:
„Da drängt sich einmal mehr die Frage auf, ob die Entscheidung damals richtig war, dieses Haus als Schnäppchen zu kaufen“, sinnierte Carl stirnrunzelnd und noch im Halbschlaf.
Unruhig wälzte er sich hin und her, zerpflügte seine Laken, unfähig, nochmals in einen milden Dämmerschlaf zu fallen. Dies ganz im Gegensatz zu Tanja, die so was so richtig zelebrieren konnte. Sie pflegte sich dann jeweils wie eine Katze zu strecken, gähnte zwei- dreimal herzhaft hintereinander, liess gar ein zufriedenes Stöhnen von sich und konnte ein paar Sekunden später wieder in Tiefschlaf fallen.
Carl war seit vielen Jahren Unternehmensberater bei Finegood & Co Ldt. in der Niederlassung Zürich. Die Firma war ein weltweit gut eingeführtes Unternehmen im Diamant- und Rohstoffhandelsgeschäft und genoss allgemein ein gutes Renommee. Mit seinen achtunddreissig Jahren war er seiner Meinung nach auf dem Zenit der beruflichen Laufbahn.
„Weitere Herausforderungen, wie etwa der Aufkauf eines grossen Mitbewerbers oder die Neustrukturierung aller Niederlassungen bleiben mir doch hoffentlich erspart! Einfach in Ruhe noch bis zur fernen Pension eine ruhige Kugel schieben, immer gutes Mittelmass liefern, einfach mitten im Mainstream bleiben. Jaja.“
Wieder verdrehte er sich in den Laken, um vermeintlich besser zu liegen.
„Heute steht doch eine wichtige Sitzung an? Verdammt nochmal, diese Sitzung!“
Carl rieb sich zum x-ten Mal die Augen. Vor sechs Uhr hielt er es nicht mehr aus. Es war wie ein Fluch: Weder am Wochenende noch im Urlaub war er imstande, einen gepflegten Morgenschlaf zu halten. Tanja zog ihn deswegen immer wieder auf.
Auf Zehenspitzen verliess er behutsam das Bett, peinlich besorgt, seine Frau nicht zu stören. Er schlich zur Tür, so grazil wie nur Pink Panther es konnte, und schnappte sich den Morgenmantel. Um seinen sportlich schlanken und gebräunten Körper schmiegte sich jetzt ein seidener, buntbedruckter Kimono. Das Mitbringsel eines Kunden aus Okayama. Aus alten Tagen. In seiner linken Tasche fischte er nach einer Schachtel Zigaretten, während die rechte Hand dem Feuerzeug neues Leben einhauchte. Mit zurückgelegtem Kopf inhalierte er hörbar zufrieden den ersten Zug.
„Das Teufelszeug schmeckt mir auch nach zwanzig Jahren noch“, meinte er mehr als Selbstbestätigung, denn als Tatsache.
„Als chronischer Raucher hat man es heutzutage aber schwer. Überall wird man diskriminiert.