Wir tragen die Überlebens-Kettenreaktion in uns, weil Traumata an sich vorkommen, weil lebensbedrohliche Situationen und Todesangst in unserer gesamten Evolution vorkamen und logischerweise von einem Leben mit Tod am Ende nicht wegzudenken sind. Wir brauchen diese Funktion, um zu überleben. Es ist total genial, dass sich unser Organismus so schützen kann vor Situationen, die wir nicht überleben würden, wenn wir unsere neuen komplexen Hirnareale dafür benützten. Es sollte allerdings keine Dauerlösung sein. Denn auch wenn Lebensgefahr zum Leben dazugehört, so ist chronisch traumatisierende Gewalt nichts, was einfach so zum Leben dazugehören sollte. Überlebens-Mechanismen sind nicht dafür ausgelegt chronisch genutzt zu werden. Denn dann sitzen wir in der Therapie und bemerken, dass wir unserem Hirn 420 Millionen Jahre Evolutionsnachhilfe geben müssen (500 Mio. minus 80 Mio.), weil wir mit dissoziativen Störungen im primitiven Fischstatus festhängen, weil wir dauerhaft abspalten.
Es fühlt sich zumindest manchmal nach so viel Arbeit an. 420 Millionen Jahre.
Wenn wir z. B. zu Beginn der Stunde in der Psychotherapie-Praxis umkippen, weil das Nervensystem sagt: Anders kommen wir hier nicht raus. Wobei die Gefahr nur ein Trigger war und das Umkippen keine den Umständen angepasste Taktik ist, um sich einer Gefahrensituation zu entziehen. Wir brauchen also Nachhilfe und müssen mit vielem tatsächlich von vorne anfangen. Wir brauchen das Erregungsniveau unseres Nervensystems in einem funktionellen Mittelfeld, denn nur dann kann unser Gehirn Orientierung und Integration koordinieren. Funktionelles Mittelfeld heißt, dass wir nicht in lähmender Todesangst und Untererregung feststecken und uns auch in keiner impulsiven Übererregung befinden. Erst dann können wir den neueren Teil des Vagus aktivieren und damit irgendwann die Abkapselung verändern und uns als Teil dieser Welt empfinden. Weil wir erst dann sozialen Kontakt herstellen können, ohne von der Scham isoliert und der Erfrierung abgehalten zu werden.
Etwa 80 Prozent der Fasern des Vagus, die Körper und Gehirn verbinden, sind sensorisch, also vom Körper zum Hirn kommunizierend. Die anderen 20 Prozent motorisch und kommunizieren vom Hirn zum Körper. Im Verhältnis 8:2 steht also, was der Vagus dem Hirn vom Körper erzählt, was er so empfindet, zu dem, was er dem Körper vom Gehirn erzählt, was der machen soll. Jetzt sag mir eine_r: „Das ist nur in deinem Kopf.“ Nein. Traumatisierungen sind sehr körperlich verankert. Auch all das, was unser Kopf abspalten konnte. Das erklärt, warum Traumata nicht ausschließlich mittels „Drüber-reden“ oder kognitiver Analyse zu „heilen“ sind, weil wir nichts analysieren können, wofür wir keine Worte oder Gedanken haben. Wir müssen grundlegend lernen, Empfindungen wahrzunehmen, diese auszuhalten und unserem Körper zuzuhören. Unser Kopf herrscht nicht über unseren Körper, vielmehr forschen und untersuchen unsere Gedanken unsere Empfindungen, sind somit oft ihre unbewussten Folgen, nicht Auslöser.
Der primitive Teil des Vagusnervs stellt auch eine kommunikative Verbindung zwischen den meisten unserer inneren Organe und dem Gehirn dar. Wir erleben Gefahr somit nicht nur von außen; Lähmungen, Übelkeit, Anspannung, Schmerzen können auch von innen Angst auslösen. Angespannte, rennbereite Beine und eine harte Mimik können dem Hirn z. B. Fluchtbereitschaft signalisieren, wodurch wir dann denken, dass es auch eine externe Gefahr geben muss. Prinzipiell ist der Fakt, dass unser Körper schneller auf Bedrohung reagiert als unser Kopf, natürlich sinnvoll. Um Reize richtig wahrnehmen zu können und zu sortieren und an ihren richtigen Speicherplatz zu verwiesen, ist in akuter Gefahr einfach keine Zeit. Es ist also eigentlich ziemlich gut, dass wir völlig „hirnlos“ (bzw. nach Anweisungen des Hirnstamms) reagieren können. Und wie Anspannung Gefahr signalisieren kann, genauso können entspannte Muskeln und tiefe Bauchatmung Sicherheit oder gar Wohlbehagen ans Hirn melden. Leider funktioniert das selten sofort, weil bestimmte Anteile ja genau dafür ausgebildet sind und diese Automatismen nicht einfach verschwinden, nur weil irgendwer sagt, dass die Gefahr vorbei ist. Wir müssen das üben und trainieren und üben und trainieren und dann noch ein bisschen üben, weil unser Gehirn nun mal dazugelernt hat und uns nicht einfach glaubt, sondern Erfahrungen braucht, um sich um-vernetzen zu können. Tatsächlich bilden sich Nervenfortsätze und Verbindungen aus, wodurch Kurzschluss-Lösungen neuroanatomisch stärker vertreten sind. Erdung bedeutet dann auch keine Heilung, aber sie führt dazu, Schritte dahin zu ermöglichen. Da durch den chronischen Überschuss an Stresshormonen die Aktivität des Hippocampus gehemmt wird, bauen sich dort auf Dauer Neuronen ab. Allerdings kann er auch wieder wachsen, wenn der chronische Stress weniger geworden ist. Wir wissen inzwischen, dass auch im Gehirn Nervenzellen nachwachsen und der hippocampale Neuronenwachstum ist am breitesten nachgewiesen. Außerdem können bestimmte Synapsen im Hippocampus bereits durch das Erkunden von fremden Orten verstärkt werden. Das bedeutet, der Mut, Neues zu wagen oder/und zu reisen, ist, neben anderen Ebenen, auch für unsere neuronale Regeneration unterstützend.
1.3 Okay. – Und jetzt?
Wir sind uns selbst das fremdeste Wesen, welches ich mir nur vorstellen konnte/kann. Ganz einfach, weil ich mir über „das Selbst“ nicht im Geringsten bewusst sein konnte und das, was jetzt stückchenweise ins Bewusstsein tröpfelt, alles andere als einfach annehmbar, bekannt oder vertraut ist. Der Körper gehört(e) nicht zu uns. Aber alles ist fremd, wenn wir uns selbst nicht kennen, weil wir dann gar nicht wissen, was uns eigentlich bekannt ist. Manche Art der Musterbildung und Koppelungen ist von Persönlichkeitssystemen auf äußere Systeme übertragbar, so wie manche Netzwerkeigenschaften des Gehirns auf soziale Netzwerke übertragbar sind: Wenn wir unsere eigene Unsicherheit annehmen können, unsere (zumindest großen, stark beeinflussenden) Themen kennen, dann können wir dem Unwissen mit Zutrauen begegnen. Dann können wir uns dem, was möglich ist, zutrauen, weil wir wissen, dass Handlungsspielräume unmöglich vor ihrer Entfaltung und Entdeckung zu bemessen sind. Nur wenn wir uns selbst als subjektives, mit Würde geborenes Wesen anerkennen (das ist ein ganz sachlicher Fakt), dann können wir anderen auch so begegnen.
Wenn wir uns im Mitgefühl üben, dann geht uns alles Leid etwas an, dann gibt es kein Leben, welches weniger wert ist als ein anderes. Dann müssen wir nicht kategorisieren und uns gegenseitig Etiketten aufdrucken, weil wir einfach zusammenlebende Wesen sein können. Und wenn du dich als Mensch siehst (wir müssen das noch üben, aber die Intention ist da), dann werden Fremde auf einmal auch nur noch Menschen. Auch nur welche mit einem Hirnstamm und Krone außen herum. Auch nur welche, die Grundbedürfnisse haben und sich, als Rudeltiere, nach Gemeinschaft in irgendeiner Art und Weise sehnen. Wenn wir Integration zulassen und unterstützen, dann bemerken wir, dass die Todesgrenzen und nicht „die Fremden“ das Problem sind. Wenn wir respektvolle Toleranz und würdevolles Begegnen wirklich ernst nehmen, wird deutlich, dass die Abspaltung und der auf konditionierte oder vorgegebene Haltungen basierende Hass das Problem ist, nicht die Existenz von Unterschieden. Wenn es um Leben und Tod geht und weder Kampf noch Flucht möglich ist, sind wir alle nur primitive knochenlose Fische ohne irgendeinen schützenden Sonderstatus. Ja, mit ein bisschen limbischem System und Cortex außen herum, aber die sind in dem Moment zweitrangig.
Konkrete Zusammenhänge