Lehrte uns nicht Jesus, wie in der Bibel geschrieben steht: »Hebe deine Augen auf und sieh!«
In meinem Fall war dieses Bewusstsein noch nicht da – weder bei mir selbst noch bei meinem Umfeld –, und so spitzte sich die Situation immer mehr zu.
Einen Monat nach dem bisher letzten Eintrag, fünf Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag, kam ich in ein Krankenhaus. Ich hatte laut der ärztlichen Meinung noch drei Tage zu leben, mein Herzschlag war wie der einer achtzigjährigen Dame, die kurz vor dem Einschlafen war, und die Ärzte wussten nicht, ob ich es schaffen würde.
Donnerstag, der 30.11.2000
Ich habe schon so lange nicht mehr eingeschrieben. Doch jetzt muss ich dir etwas schreiben.
Ich bin hier gerade im Krankenhaus. Ich kann nicht mehr. Ich vermisse Mutti, Vati, meine Schwester und meinen Kater. Ich darf keine Besuche, keine Anrufe und keinen Briefkontakt haben. Nichts.
Am Dienstag habe ich Geburtstag. Na toll!
Ich sollte eigentlich erst am Freitag hierher. Doch Mutti meinte, es hat keinen Zweck mehr, noch zu warten …
Nun bin ich schon heute hier.
Ich will hier raus. Ich kann nicht mehr. Liebe Engel, helft mir doch! Ich vermisse sie so sehr.
Der Arzt hat heute gesagt, es kann bis Februar dauern, bis ich hier raus bin. Er hat auch gesagt, dass ich einen Body Mass Index von 13 habe, und unter 17 ist es schon Magersucht und lebensbedrohlich. Er meinte, ich bin so dünn, dass ich jede Minute sterben könnte. Ich habe Angst und keiner ist hier, der mich tröstet. Ich vermisse sie alle so.
Mir laufen die Tränen, denn das bin ich, die da so um Hilfe schrie. Das tut weh. Ich war gerade noch dreizehn Jahre alt, saß in diesem Krankenhaus und wusste nicht, was mit mir geschah. Drum herum dachten sie, ich würde bald sterben, und ich stand mit meiner Angst ganz allein da.
Die Bestätigung: Wieder allein!
Ich bin froh, dass ich diese Zeit überstanden habe. Aber sie hat mich geprägt – und auch die Beziehung zu meinen Eltern. Denn mit dreizehn getrennt von allem zu sein, das konnte ich bis jetzt nicht vergessen. Ich verzeihe, aber es sitzt so tief, dass mir das Vergessen nicht gelingt.
Noch heute ist es bei mir so, dass Vertrauen mit Angst einhergeht. Angst davor, wieder allein gelassen zu werden. Dabei ist es vorbei und ich weiß: Diese Angst ist nicht mehr real. Wissen ist aber nicht Fühlen, und so lerne ich nur langsam, Stück für Stück, neu zu vertrauen. Noch heute.
Die größte Hilfe war damals meine Oma. Denn nachdem ich über Jahre in Behandlung und in verschiedenen Krankenhäusern gewesen war, zog ich zu ihr. Wir hatten eine wundervolle Zeit zusammen. Bei ihr durfte ich bedingungslose Liebe kennenlernen. Sie liebte mich unendlich und zeigte mir, dass ich vertrauen durfte und konnte. Dass ich wütend sein durfte und weinen konnte, dass ich in den Arm genommen wurde und ich nicht allein war. Dass ich gut bin, so wie ich bin. Dass ich immer geliebt werde – egal wie die äußeren Umstände sind.
Höre auf dein Herz! Unser innerster Kern zählt – nur der.
Alles andere ist vergänglich und nebensächlich.
Die Seele bleibt.
Die Zeit in der Klinik
Ich schrieb weiter:
Heute Morgen, als Mutti und Vati mich hergebracht haben, war kein Arzt hier. Wir sollten um 12.30 Uhr noch mal wiederkommen. In der Zeit war ich mit Mutti in der Nähe in Geschäften schauen. Wir haben was zum Lesen und zum Schreiben gekauft.
Dort waren total süße Figuren, und zwar kleine Schweinchen, die habe ich ihr gezeigt.
Später, als sie weg waren und ich alleine im Krankenhaus, hat mir die Schwester ein Schweinchen von Mutti gegeben. Das hat sie heimlich gekauft.
Ich will hier raus! Ich habe Angst und so weiter.
Morgen früh werde ich gewogen und dann wird ein Programm angefangen: 6 Mahlzeiten am Tag (2500 kcal). Ich muss jeden Tag 100 Gramm zunehmen.
Ich hoffe, das schaffe ich. Ich will hier raus.
Das Programm hieß »Grazer Modell«. Entsprechend dem Modell wurden am Aufnahmetag das Ist-Gewicht sowie der BMI (Body Mass Index) ermittelt. Des Weiteren wurde das Zielgewicht, das es zu erreichen galt, damit ich entlassen werden konnte, festgelegt. Darüber hinaus wurde ich täglich vor dem Frühstück – nach Blasenentleerung, worauf geachtet wurde – gewogen. In einem Diagramm wurde das tägliche Gewicht als Kurve festgehalten. Diese musste kontinuierlich steigen – bis zum Idealgewicht. Ich musste täglich 100 Gramm zunehmen. Wenn ich dies nicht schaffte, bekam ich Bettruhe verordnet. Das bedeutete, den ganzen Tag nicht bewegen. Nur im Bett liegen und in das alte, kalte Krankenzimmer schauen.
Hatte ich abgenommen oder bewegte sich mein Gewicht nicht entsprechend der geplanten Kurve, war vorgesehen, mich über eine Sonde künstlich zu ernähren.
Die Mahlzeiten durfte ich nicht zusammen mit anderen einnehmen, nein ich musste sie allein zu mir nehmen – im Bett. Das Essen wurde mir gebracht und ich hatte eine halbe Stunde Zeit, alles aufzuessen. Tat ich das nicht oder schaffte ich es nicht in der vorgegebenen Zeit, wurde das Essen wieder mitgenommen.
Harte Regeln für ein Kind. Meine Gefühle spielten da überhaupt keine Rolle. Es ging nur um Zahlen, um mein Gewicht und um die Pläne der Krankenhausleitung sowie meiner Eltern.
Mein Gewicht, was ich haben muss, sodass ich hier raus darf, wird morgen auch festgelegt. Es liegt zwischen 44 und 46 kg. Jetzt wiege ich aber nur maximal 35 kg. Noch nicht mal ganz.
Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Ich möchte doch so gerne Weihnachten nach Hause und nicht wieder hierher. Es soll alles wieder gut werden.
BITTE! Ich muss es schaffen. Das Schweinchen, die Engel und der liebe Gott müssen mir helfen. Ich will nach Hause. BITTE. Ich schreibe dir morgen.
Wie klein und liebesbedürftig ich war, sehr sensibel – verloren in der großen Welt.
Das geplante Entlassungsgewicht wurde mit den Eltern und den Therapeuten festgelegt. Ich konnte mir alles anhören und daneben sitzen – Einfluss auf das Gewicht, das als »Limit« festgelegt wurde, hatte ich jedoch nicht.
Freitag, der 01.12.2000
Hallo liebes Tagebuch!
Heute ist der 1. Dezember und Sonntag schon der 1. Advent.
Vorheriges Jahr um diese Zeit haben wir die Sonntage immer gemeinsam genossen. Zusammen alles schön geschmückt und dann in der Wohnstube im Kerzenschein gesessen. Wir alle vier.
Ich vermisse sie so. Ich will unbedingt nach Hause.
Heute Morgen hat Marleen bestimmt ihr Kalendertürchen aufgemacht.
Ich würde gerne sehen, was für einen Adventskalender sie hat. Ich hätte mir auch einen gewünscht – zu Hause. Wir haben heute hier auf Station einen Adventskalender bekommen.
Diese Zeilen verdeutlichen mein Heimweh, meine Traurigkeit, die kindliche Hilflosigkeit und die Verzweiflung, der ich ausgesetzt war. Das dreizehnjährige Mädchen, das ich zu diesem Zeitpunkt war,