Dieser Eintrag verweist auf das im Juli 1943 niedergeschriebene Typoskript der Musik-Bibliothek des Kollegium Karl Borr. Altdorf und zeigt die Signierung der Bestände «K. B.» und «B. B.».
Trotz der Vertreibung des Konvents ist in Mariastein selbst das musikalische Leben nicht vollends zum Erliegen gekommen. Ab 1890 sind im Bestand erste Belege einer kirchenmusikalischen Tätigkeit nachweisbar. Sie wurde gepflegt durch einen aus Laien der Umgebung bestehenden Kirchenchor unter der Leitung verschiedener Patres, welche für die staatlich garantierte und finanzierte Wallfahrt verantwortlich waren, sowie durch Gastchöre. Sowohl im Handschriftenbestand als auch in den gedruckten Musikalien der Mariasteiner Musiksammlung finden sich zahlreiche Einheiten, die mit dem Besitzerstempel «Mariastein (b. Basel)» gekennzeichnet und im Zettelkatalog mit den Signaturen «Mus A» bis «Mus S» verzeichnet sind. «Mus A» bis «Mus S» sind willkürlich gewählte Kennzeichen einer Bestandsgliederung nach Gattungen, Besetzungen und Ausgabeform der Publikation:
A | Messen: Partituren und Singstimme |
B | Offertorien, Gradualien, Alleluia, Motetten: Partituren und Singstimmen |
C | Eucharistische und Predigtgesänge: Partituren und Singstimmen |
D | Marien- und Kirchenlieder |
E | Messen: nur Einzelpartituren |
F | Klaviersachen: Festgebundene Hefte |
G | Klaviersachen: Einzelblätter |
H | Begleitbücher, Schulen, Klavierauszüge |
I | Orgelsachen: ein einzelner Komponist |
K | Orgelsachen: Sammlung mehrerer Komponisten |
L | Violinsachen: Violine allein |
M | Violinsachen: Violine mit Begleitung |
N | Klavier mit einstimmigem Gesang |
O | Gesänge mehrstimmig mit Klavier oder Orgel |
P | Gesänge mehrstimmig a cappella |
Q | alte Sachen: festgebunden |
R | alte Sachen: lose Blätter |
S | Orgelsachen auf Empore |
Teile der im Zettelkatalog Mus A 1 bis Mus S 76 katalogisierten Musikalien sind während der Exilzeit des Konvents nachweisbar in Mariastein aufgeführt worden; der Beleg findet sich wiederum in den akribisch geführten Aufführungsverzeichnissen13 von 1925 bis 1971. Der Zettelkatalog macht aber auch deutlich, dass neben dem umfangreichen Korpus des Kirchenchorrepertoires wohl auch Handschriften und Drucke des 18. und 19. Jahrhunderts während des Exils des Konvents in Mariastein zurückgeblieben sind. Darauf verweisen die Signaturen «Mus Q» (alte Sachen: festgebunden) und «Mus R» (alte Sachen: lose Blätter), unter denen sich ein grösserer Teil der handschriftlichen Überlieferung von vor der Reorganisation befand.
Bewertung als Schlüssel zur erfolgreichen Reorganisation
Die Überlieferungsbildung vor der Reorganisation zeigt einen historischen Quellenbestand unterschiedlicher Provenienz sowie Notendrucke aus verschiedenen Jahrhunderten auf, die als Teilbestände entweder geschlossen oder dann über das ganze Sammlungsgut ohne Verzeichnung Eingang in die Sammlung gefunden haben. Die Definition einer neuen Sammlungstektonik hat daher die turbulente Überlieferungsbildung vor der Reorganisation zu berücksichtigen; sie muss aber auch im Kontext der archivarischen Bewertungsdiskussion Bestand haben. Dass dieses Unterfangen nicht einfach ist, zeigen die mehreren abgebrochenen Versuche, die Sammlung vor der jetzt laufenden Reorganisation neu aufzubauen.
Theoretischer Diskurs
Fragen der Bewertung und der Überlieferungsbildung von Musiksammlungen werden nicht im Kontext der archivarischen Bewertungsdiskussion geführt. Insofern ist es nicht überraschend, dass die Bewertung von Musiksammlungen in der archivwissenschaftlichen Fachliteratur kein Thema ist. Zu diesem Ausschluss haben in Grossbritannien und den USA Sir Hilary Jenkinson in «A Manual of Archive Administration» (1922) und insbesondere Theodore Schellenberg in «Modern Archives: Principles and Techniques» (1956) wohl entscheidend beigetragen: Beide Autoren gestehen Privatnachlässen und historischen Manuskripten (Sammlungen) keinen «Archivstatus»14 zu. Aus der Eingrenzung des Archivbegriffs auf das Verwaltungshandeln und der Fokussierung von «Bewertung» auf die «Aussagekraft von Verwaltungsunterlagen»15 wird nachvollziehbar, dass Musiksammlungen mit Archivalien, die in der Regel ein künstlerisches Œuvre überliefern, daher kaum Eingang in öffentliche Archive finden und hinsichtlich der Überlieferungsbildung zumeist denselben Kriterien unterworfen sind wie der spezifisch «bibliothekarische» Teilbestand Notendrucke.
Der Fokus der nachfolgenden Ausführungen richtet sich auf die historischen Teilbestände von Musiksammlungen (insbesondere die handschriftliche Überlieferung und den Notendruck vor 1850), und dies aus folgendem Grund: Vorgänge des Bewertens werden vorab dann relevant, wenn es um die Frage der Übernahme von handschriftlichen Dokumenten und Rara-Drucken geht. Handschriftliche Dokumente gelangen heute in der Regel als Nachlässe von Komponisten oder Interpreten in Musiksammlungen. Die von Robert Kretzschmar in Bezug auf das Archivgut geforderte Bewertungstransparenz für Schriftgut des staatlichen Handelns 16 hat auch für das Sammlungsgut einer öffentlichen Musiksammlung ihre Berechtigung. In der Praxis zeigt sich aber, dass Entscheide zur Übernahme von Komponisten- und Interpretennachlässen, denen eine Bewertung vorangegangen ist, nur dort transparent und von Aussenstehenden nachvollziehbar werden, wo gesetzliche Grundlagen oder veröffentlichte Regelungen zum Sammlungsaufbau vorliegen. Als mustergültig darf im Kontext der Nationalbibliotheken die «Collection development policy CDP-Music» der Music Collection der National Library of Australia bezeichnet werden. Sie definiert nicht nur den Begriff des nationalen musikalischen Kulturgutes – «‹ Australian music › is defined as music created by Australians, or published in Australia, or associated with Australia by explicit Australian performance or subject reference» –, sondern ebenso die Bewertungskriterien für Musikhandschriften, die innerhalb der National Library verschiedenen Abteilungen zugeordnet sind: «Unpublished Australian music is collected either as part of the archives of Australian musicians, held in the Manuscript collection, or as special collections of Australian musical works or Australian musical organisations. When a special collection primarily contains sets of unpublished scores and parts (e. g. the Symphony Australia collection), these are acquired and managed within the music collection.»17
Aus der CDP-Music lässt sich eine markante Divergenz zur Bewertung von Archivgut aus dem Verwaltungshandeln ableiten. Im Bewertungsvorgang findet keine Kassation von Dokumenten statt: Musiksammlungen übernehmen in der Regel einen Personennachlass oder das Archivgut einer Körperschaft als Bestand oder sie lehnen ihn ab. Von dieser Feststellung ausgenommen ist die Übernahme (Kauf oder Schenkung) von Einzelautographen, die in der Regel als Ergänzung eines bereits vorhandenen Bestandes oder aufgrund eines engen Bezugs zur Sammlungspolitik der Institution zustande kommt; in diesem Fall erfolgt der Akt des Bewertens auf der Stufe des Dokuments.
Die Überlieferungsbildung von musikalischen Archivalien in öffentlichen Musiksammlungen der Schweiz ist sehr stark durch den kantonalen Sammelauftrag geprägt. Diese «inhaltliche» Bewertung manifestiert sich beispielsweise in der Selektion von «Turicensia» (Personennachlässe und Körperschaftsarchive der Musikabteilung