Sr. Ottilie – erste Übergriffe
Bei allen meinen Besuchen war Sr. Ottilie praktisch die einzige Person, mit der ich sprach. Die anderen Schwestern sah ich nur in der Kapelle oder am Tisch. Mit Sr. Ottilie saß ich in den Stunden dazwischen zusammen. Sie schien für mich zuständig zu sein. Sie ließ sich Briefe von mir schreiben, die sie, wenn ich auf Besuch war, hervorholte und mit mir besprach. Das kam mir zwar seltsam vor und war obendrein unangenehm, aber ich dachte mir, wenn ich erst einmal eingetreten bin, werde ich eine richtige Ausbildnerin bekommen, eine, mit der ich mich zweifellos besser verstehen werde. Denn Sr. Ottilie verstand mich nicht, sie behandelte mich wie ein Kind, das noch viel lernen müsse. Sie lächelte spitz, wenn ich etwas sagte, als halte sie mich für naiv. Ja, manches Mal hatte ich das Gefühl, dass ein subtiler Machtkampf zwischen uns stattfand, in dem sie auf jeden Fall die Oberhand behalten wollte. Das tat sie auch, denn ich wollte ja meine Berufung nicht aufs Spiel setzen, auch wenn ich manches Mal kurz davor war, meiner Wut freien Lauf zu lassen.
Vor allem an eine solche Situation kann ich mich gut erinnern: Sr. Ottilie und ich kamen aus dem Gesprächszimmer und gingen miteinander die Treppe hinauf bis vor mein Zimmer. Ich hielt einen Stapel mit einigen Heftchen in der Hand, die sie mir zu lesen gegeben hatte und wollte in mein Zimmer verschwinden. Die Türklinke hielt ich schon in der Hand. Da kam Sr. Ottilie auf meine Kleidung zu sprechen. Wie gesagt, ich kleidete mich, für mein Gefühl, ohnehin schon wie eine Schwester. Ich trug einen langen schwarzen Rock mit einem leichten weißen Karomuster, darunter Nylonstrumpfhosen und dazu einen langärmeligen weißen Pulli mit einem Kragen und Reißverschluss. »Du musst dich wärmer anziehen«, sagte sie, und bevor ich begriff, was geschah, schob sie mich in mein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und griff unter meinen Pulli. »Was hast du denn da drunter an?«, fragte sie. Diese Berührung war mir extrem unangenehm. Und die offensichtliche, als Fürsorge getarnte Grenzverletzung irritierte mich. Ich war mir deutlich der Wut bewusst, die mich in diesem Moment überkam und in der vieles, was sich in den letzten Monaten aufgestaut hatte, nach oben kochte. Dennoch brachte ich kein Wort heraus und stand starr, völlig überrumpelt mitten im Zimmer, während Sr. Ottilie, die meinen Pulli nach oben geschoben hatte und mein Unterhemd zwischen ihren Fingern hielt, auf mich einredete. Sie würde mir ein paar warme Unterhemden mitgeben.
Kurz darauf war sie verschwunden. Ich fühlte mich beklemmt. Ein Gefühl, das keineswegs besser wurde, als sie mir nach der Abendanbetung einen Stapel unglaublich dicker, langärmeliger Baumwollhemden in die Hand drückte, mit der Anweisung, diese mit nach Hause zu nehmen und ab sofort zu tragen. Ich machte sogar noch eine freundliche Miene und bedankte mich. Tatsächlich fühlte ich mich gedemütigt. Jahre später dachte ich, dass dies vielleicht der erste in einer langen Reihe körperlicher Übergriffe war, ein Test, was ich alles mit mir machen lassen würde, wie verfügbar ich wäre, ein erster Schritt hin zur ultimativen Katastrophe. Damals war ich einfach nur froh, den Moment irgendwie überstanden zu haben und daheim der Kontrolle von Sr. Ottilie entzogen zu sein. Ich trug die Unterhemden nur, wenn ich zu Besuch kam.
Es gab aber auch Gelegenheiten, bei denen ich das Gefühl hatte, dass auch noch andere Personen mich prüfen sollten. Ich erinnere mich an ein Mittagessen mit P. Klemens, dem Neffen von Mutter Marozia und Verantwortlichen der Priestergemeinschaft im Mutterhaus. Dieser große schlanke Mann mit den leicht ergrauten Haaren saß mir mit fachmännischer Freundlichkeit gegenüber, während Sr. Ana, die neben mir saß, als eine Art Gesprächsassistentin fungierte. Sie gab mir fortwährend Stichworte. »Erzähl doch, wie dein Vater dir Psalmen vorgelesen hat, als du klein warst.« Dies und das sollte ich erzählen, und P. Klemens hörte freundlich zu. Das Essen kam zu seinem Ende, er verabschiedete sich, und ich fragte mich, wozu dieses Gespräch gut gewesen war. Der Verdacht, es wäre eine Art Test gewesen, ließ sich nicht völlig abschütteln.
Gespräch mit Mutter Marozia
Irgendwann wollte auch Mutter Marozia mit mir sprechen. Es war ja völlig klar, dass sie als International Verantwortliche der Schwesterngemeinschaft der Königsfamilie sich ein Bild von mir machen wollte. Vor dem Gespräch mit ihr war ich ziemlich nervös. Sie erwartete mich an einem Nachmittag im sogenannten großen Empfangszimmer des Mutterhauses. Es lag der Pforte gegenüber und hatte eine zweite Tür auf den Kreuzgang hinaus. Ich kannte den Raum schon. Durch seine Höhe, die großen Fenster und den Stuck an der Decke wirkte er besonders repräsentativ. Mutter Marozia pflegte ihre Gäste und Gesprächspartner hier zu empfangen. Sie war mindestens einen halben Kopf kleiner als ich. Ihre leicht rundliche Figur steckte immer in einem Kostüm, das sich von den weiten und unansehnlichen Röcken und Blusen der gewöhnlichen Schwestern vor allem dadurch abhob, dass es ihr auf gewisse Weise stand.
Das mit Abstand Bemerkenswerteste an ihr war aber ihr Gesicht. Ihr Blick war durchdringend. Um ihren Mund hatte sie einen ungeheuer entschlossenen und dominanten Zug, der dadurch zu entstehen schien, dass sie die Backenzähne aufeinanderbiss und dabei leicht die Lippen spitzte. Ihre Erscheinung hätte etwas Vornehmes haben können, wenn nicht die fieberhafte Dominanz, die ihr Wesen beherrschte, jede Form von Eleganz verunmöglicht hätte. Sie war eine Getriebene. Als ich später Fotos aus ihre Jugend sah, auf denen sie ihre damals noch langen Haare zu einem großen Dutt zusammengebunden hatte, war ich erstaunt über die Veränderung, die diese Frau durchgemacht hatte. Als sie jung war, hatte sie noch einen Glanz in den Augen, ein strahlendes rundes Gesicht, eine gewisse mädchenhafte Liebenswürdigkeit. Als ich sie vor meinem Austritt das letzte Mal sah, war sie eine in sich zusammengefallene und wegen ihrer Wahnhaftigkeit abgeschobene alte Frau.
Als ich ihr beinahe zehn Jahre früher das erste Mal gegenübersaß, war sie zunächst einfach die Oberin, in deren Augen ich bestehen musste. Sie redete in einem fort, und alles, was sie sagte, unterstrich sie mit ihrer erregten Stimme, erhobenen Augenbrauen und einem bedeutungsvollen Blick aus ihren funkelnden Augen. Keinem ihrer Worte hätte man zu widersprechen gewagt. Sie begann damit, dass sie auf ein Vorkommnis während des Mittagessens einging. Das Mittagessen war eine oft genutzte Gelegenheit, Nachrichten und Ankündigungen zu verbreiten. Die Pförtnerin erhob sich und sagte, sie wolle der Gemeinschaft ein »Zeichen der Zeit« mitteilen: »An der Pforte hat heute jemand eine Schachtel Pralinen für uns abgegeben. Jede ist einzeln verpackt und in jeder Verpackung steckt ein Zettel mit einem Spruch. Als wir eines geöffnet haben, was lesen wir da: Teufel, ich liebe dich!«
Die Stimmung im Raum war schlagartig von betroffenem Schweigen geprägt, unter das sich ein geradezu alarmiertes Murmeln mischte. Sie hätte kaum etwas Schrecklicheres sagen können. Da tönte die Stimme eines jungen Fraters durch den Raum, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht sagte: »Naja, es heißt ja immer, wir sollten die Pforte entlasten. Ich melde mich freiwillig zum Verzehr der Schoki!«
Lautes Lachen war die Antwort aus der Ecke, in der die Patres saßen. Natürlich erinnerte ich mich daran, als Mutter Marozia wenige Stunden später darauf zu sprechen kam. Ihr Anliegen schien besonders darin zu bestehen, den jungen Frater, für den sie deutlich Sympathie zu hegen schien, zu entschuldigen. »Gott weiß, wo er sich noch bekehren muss. Aber wenn einer die Gnade hat, die ganze Gemeinschaft zum Lachen zu bringen, ist das auch ein Geschenk«. Ich behielt den jungen Frater in den folgenden Monaten im Blick. Er hieß Alwin. Und die Gabe, die Gemeinschaft zum Lachen zu bringen oder auch einfach nur die Stimmung im Saal zu drehen und sich allgemeiner Panikmache zu entziehen, schien er wirklich in großem Maße zu besitzen.