Es folgten weitere Albumblätter. Darunter Bilder von der Feier der Päpstlichen Anerkennung. Ziemlich genau vor einem Jahr, am 29. August 2001, war die Gemeinschaft von Johannes Paul II. als »Familie des geweihten Lebens« anerkannt worden. Sie war kein Orden und kein Säkularinstitut, auch kein Institut im klassischen Sinn, sondern eine »neue Form des geweihten Lebens« nach can. 605 CIC (dieser Canon des kirchlichen Gesetzbuches schien sehr wichtig zu sein, denn er wurde mehrmals genannt). Das war eine wichtige Nachricht, denn ich wollte nicht in eine Gemeinschaft eintreten, die nicht kirchlich anerkannt war. Soviel war klar. Dass die Königsfamilie vom Papst anerkannt war, hieß, dass sie die katholische Lehre und das kirchliche Recht befolgte und dass die Kirche sich dafür verbürgte, dass sie das tat. Ich konnte der Königsfamilie also grundsätzlich vertrauen, es war keine obskure Vereinigung.
Das bestätigte umso mehr das nächste Bild, auf dem Kardinal Ratzinger zu sehen war, als Hauptzelebrant bei der Dankesmesse für die Päpstliche Anerkennung, die im November 2001 im Petersdom stattgefunden hatte. Ich fand es aufregend, dass der Präfekt der Glaubenskongregation mit der Königsfamilie befreundet war, denn er war eine wichtige Persönlichkeit. Vor allem aber hieß es, dass ich wirklich vollstes Vertrauen in die Integrität dieser Gemeinschaft haben konnte. Der weiße Chormantel, den die Mitglieder der Königsfamilie nicht nur bei dieser Gelegenheit, sondern an allen Sonn- und Feiertagen beim Gebet trugen, war ein Sinnbild für die Reinheit der Erlösten. Er erinnert an die Taufe und symbolisiert die Schar der Heiligen, die im letzten Buch der Bibel vor dem Thron Gottes stehen und ihn anbeten. Die Dornenkrone und der Schleier schreckten mich nun weniger ab als zuvor. Was die Bilder vom Herzen Jesu und einige Sätze über ein »Bündnis« bedeuten sollten, verstand ich nicht ganz. Eines der letzten Albumblätter zeigte zwei Kreuz-Anhänger. Einer war silbern, der andere rot. Das rote Kreuzchen sei eine Art Verlobungszeichen, sagte Sr. Ottilie. Junge Frauen, die in die Königsfamilie eintreten wollten, würden bis zu ihrem Eintritt ein solches Kreuz tragen. Männer trügen das silberne Kreuz. Sr. Ottilie sah mich erwartungsvoll an. Ich betrachtete das Bild. Irgendwie fand ich das kindisch, besonders dieses Wort »Verlobung«. Immerhin wusste ich jetzt, was der nächste Schritt war, wenn ich denn in die Königsfamilie eintreten wollte.
Das Werk Gottes
Dann kam etwas, das mich traf wie ein Blitz: auf dem nächsten Albumblatt war ein Christus-Fresko aus einer römischen Basilika zu sehen. Daneben ein Bibelvers aus dem Johannesevangelium: »Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat«. Dieser Vers sei das Motto der Königsfamilie, sagte Sr. Ottilie. Er erklärte den Namen der Gemeinschaft. Ich war wie vom Donner gerührt. Dieser Vers war mein Taufspruch! Nach gutem evangelischem Brauch erhält jeder Täufling einen Bibelvers, der ihn durchs Leben begleiten soll. Mein Vers war exakt dieser: Joh 6,29. Ich war sprachlos. Die Schwestern waren beinahe ebenso erstaunt wie ich, nur dass ihr Erstaunen sich sofort in helle Freude verwandelte. Sr. Hildegard kriegte sich fast nicht mehr ein. Auf dem Gesicht von Sr. Ottilie lag ein überlegenes Lächeln. Uns allen dreien war augenblicklich klar, dass das ein ganz klares Zeichen war. Ich war zur Königsfamilie berufen. In meiner Taufe schon hatte Gott diese Berufung in mich gelegt. Nun war alles klar. Die Entscheidung war im Grunde gefallen. Ich wusste nur nicht, ob ich mich freuen sollte.
Erst als ich wieder daheim war, gelang es mir halbwegs, meine Gedanken und Gefühle zu sortieren. Ich war hin- und hergerissen zwischen der Abneigung, die ich zuerst empfunden, und der Begeisterung, die ich dann erlebt hatte. Auf jeden Fall mochte ich Sr. Ottilie nicht. Und wenn ich eintrat, würde ich niemals ein Ordenskleid haben, dafür müsste ich aber früher oder später den Chormantel mit Dornenkrone und Schleier tragen. Schon die Vorstellung war mir zuwider. Konnte ich das wollen? Besser: konnte es wirklich das sein, was Gott von mir wollte? Andererseits war der Taufspruch ein so eindeutiges Zeichen. Und ich hatte noch nirgendwo so eine Feierlichkeit und Fröhlichkeit erlebt, so eine Begeisterung. Ich kannte keine Gemeinschaft, die so viele junge Mitglieder aus allen möglichen Ländern hatte – und eigene Priester! Priester, die im Vatikan arbeiteten und Kardinal Ratzinger kannten. Gedankenverloren saß ich in der Küche und hielt den Flyer in der Hand, den ich meiner Mutter zeigte. An den Chormantel würde ich mich schon gewöhnen, meinte sie. Vielleicht hatte sie recht, dachte ich. Jedenfalls war das kein ausreichender Grund, nicht dort einzutreten. Schließlich würde es in jedem Kloster die eine oder andere Kleinigkeit geben, die gewöhnungsbedürftig wäre. Vor allem war eines klar: wenn Gott mich in der Königsfamilie haben wollte, dann wusste er, was er tat. Dann musste ich mir nicht weiter den Kopf zerbrechen. Was immer nach dem Eintritt geschehen würde, ich würde seinen Willen tun, und damit wäre alles gut. Und eines wusste ich ohnehin: ein Leben in der Nachfolge Jesu schloss Verzicht und Leiden mit ein. So halb und halb war die Entscheidung damit gefällt. Allerdings wollte ich die Fahrt nach Rom noch abwarten. Ich wollte Sr. Ottilie die Freude meiner Zusage nicht zu früh machen.
Besuch in der Piccola Casa
Der erste Anruf von Sr. Ottilie ließ nicht lange auf sich warten. Sie gab mir eine italienische Telefonnummer, unter der ich Sr. Annemarie erreichen konnte. Es stellte sich heraus, dass das gar nicht nötig war, da sie schon minutiös alles mit ihr ausgemacht und geplant hatte. Das hieß auch, dass an Ablehnung gar nicht mehr zu denken war. Einige Wochen später war es so weit. Seit ein paar Tagen waren wir mit unserer Reisegruppe in Rom unterwegs, als der angepeilte Nachmittag anbrach. Während unsere Gruppe sich mit Don Tedesco, der für die deutschen Pilger in Rom zuständig war, das Pantheon ansah, trafen wir uns mit Sr. Annemarie, einer schmalen, dunkelhaarigen Vorarlbergerin, auf dem Petersplatz. Sie begrüßte uns mit einer leicht aufgeregten Sopranstimme. Wir waren relativ knapp dran. Am Portal neben dem Sant’ Ufficio wechselte sie ein paar Worte auf Italienisch mit den Schweizer Gardisten, die uns in den Vatikan einließen. Wir ließen den Campo Santo zu unserer Linken und gingen nach rechts auf das Ufficio Scavi zu. Vor dem Eingang trafen wir Sr. Teresa, die einige einleitende Worte zu einer bunt zusammengewürfelten deutschen Gruppe sagte, der wir uns anschlossen. Sr. Annemarie nahm unterdessen meine beiden jüngsten Schwestern mit sich fort. Sie durften nicht an der Führung teilnehmen, da sie beide jünger als zwölf waren. Sie würde so lange auf sie aufpassen. Wir wandten uns Sr. Teresa zu. Mit ihrem schüchternen Lächeln und ihrem karierten Faltenrock ähnelte sie in nichts den stimmgewaltigen und entschlossenen Touristenführerinnen, die ich vor ein paar Tagen im Petersdom beobachtet hatte.
An die Führung durch die Nekropole erinnere ich mich kaum. Umso mehr erinnere ich mich aber an das, was hinterher geschah. Ohne dass es angekündigt worden wäre, wartete am Ende der Führung ein freundlicher und gutgelaunter Priester auf uns, ein Rheinländer mit rundem Gesicht und breitem Grinsen. Er mochte Mitte 30 sein und stellte sich als P. Christoph vor. Nachdem er ein paar scherzende Worte mit Sr. Teresa gewechselt hatte, bat er uns zu unserer großen Überraschung, mit ihm zu kommen. Er schleuste uns durch die Grotten von St. Peter, öffnete hier eine Absperrung und dort eine, bis wir schließlich wieder auf dem Petersplatz standen. Wir staunten nicht schlecht. Mit dem Auto fuhr er uns eine kleine Strecke in die sogenannte Piccola Casa. Sie war eines der beiden Häuser der Königsfamilie in Rom. Als wir das Haus betraten, kamen uns über die Treppe aus dem ersten Stock schon meine beiden kleinen Schwestern entgegen und zeigten uns stolz die Engelsflügelchen, die Sr. Fleur, eine liebenswerte ältere Belgierin, ihnen gebastelt hatte.
Das äußerst liebevoll eingerichtete, verwinkelte Häuschen hatte ein gewisses italienisches Flair. Dunkles Holz und Marmortreppen verliehen ihm einen edlen Touch. Die schiere Kleinheit seiner Maße ließ es unklösterlich wirken, ganz anders als das Kloster