Schweizerische Demokratie. Sean Mueller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sean Mueller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783258480091
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Geschichte. Zum anderen waren das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht, die Armee und das Recht auf Niederlassung in jedem Kanton auch etwas Reales und womöglich das erste Gemeinsame zwischen Appenzellern und Genfern. Das Dach des Föderalismus, das den Kantonen grosse Freiheiten liess, war eine politisch-institutionelle Voraussetzung dafür, dass die historischen Konflikte zwischen den Konfessionen in der Folge auskühlen konnten und dass die sprachlichen und kulturellen Minderheiten ihre Identität zu erhalten vermochten. Sprach- und Konfessionsminderheiten erhielten Sitz und Stimme im Bundesstaat. Dies trug dazu bei, dass durch politische Integration überhaupt eine schweizerische Gesellschaft entstehen konnte. Freilich gab es auch Ausgrenzungen. Der wirtschaftlich-soziale Klassenkonflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital blieb bis zum Zweiten Weltkrieg ungelöst. Gewerkschaften und die politische Linke hatten bis zu diesem Zeitpunkt wenig Einfluss auf die Bundespolitik und blieben während Jahrzehnten aus der rein bürgerlichen Landesregierung ausgesperrt. Auch für kulturell-sprachliche Konflikte gibt es Ausnahmen vom Muster politischer Integration. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach ein Minderheitenkonflikt offen und heftig aus, als der französischsprachige, katholische Teil des Kantons Bern die Legitimität der bernischen Regierung in Frage stellte und in einem langen Kampf 1978 die Errichtung eines eigenen Kantons erreichte.

      Auch haben neben den politischen Institutionen andere Faktoren – etwa das Zusammenrücken in den Zeiten äusserer Bedrohung vor und während des Zweiten Weltkriegs – zur Abschwächung gesellschaftlicher Konflikte beigetragen. Trotzdem bleibt die erfolgreiche Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen und die friedliche Lösung ihrer Konflikte bis heute eine der wichtigsten Leistungen des schweizerischen Systems. Aus politologischer Sicht spielen dabei zwei institutionelle Einrichtungen eine besondere Rolle, nämlich der Föderalismus sowie die proportionale Machtteilung oder Konkordanz.

      Die Eigenart schweizerischer Demokratie zeigt sich an mehreren Punkten. Erstens setzte sich das Prinzip demokratischer Legitimation politischer Herrschaft früher durch als in den anderen europäischen Ländern, wo im 19. Jahrhundert der Republikanismus der Französischen Revolution auf die konstitutionelle Monarchie zurückfiel. Später, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war die schweizerische Demokratie so stark gefestigt, dass sie den Tendenzen des Totalitarismus zu widerstehen vermochte.

      Zweitens setzten sich im 19. Jahrhundert unter der Devise der «Volkssouveränität» jene Formen der direkten Demokratie durch, die der Stimmbürgerschaft über das Wahlrecht hinaus die Mitwirkung an den wichtigsten Sachgeschäften erlauben. Die Abstimmungsdemokratie gewährt ihren Bürgerinnen und Bürgern eine Mitgestaltung der «res publica», die erheblich über das hinausgeht, was sich in den Demokratisierungswellen des 20. Jahrhunderts als Repräsentativsystem global durchsetzte.

      Drittens gehört die Schweiz zu den föderalen Systemen. Die föderative Teilung staatlicher Macht zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten ist zwar keineswegs einzigartig, und die Kombination von Demokratie und Föderalismus durch das Zweikammersystem des Parlaments wurde auch nicht in der Schweiz erfunden, sondern aus dem amerikanischen Verfassungssystem entlehnt. Dagegen erfüllt der Föderalismus besondere politische Funktionen in der sprachlich-religiös segmentierten Gesellschaft der Schweiz: 1848 das Ergebnis eines politischen Verfassungskompromisses zwischen Katholisch-Konservativen und Protestantisch-Freisinnigen, sichert Föderalismus bis heute die kulturellen Eigenheiten der Kantone. In den weitreichenden Kompetenzen von Kantonen und Gemeinden und in deren hohem Anteil an den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben drückt sich sodann die Präferenz der Stimmbürgerschaft für ein möglichst dezentrales Gemeinwesen aus. Dem Bund wird nur, und nur zögerlich, zugewiesen, was die Kantone nicht zu leisten vermögen.5 Die schweizerische Zentralregierung dürfte die einzige auf der Welt sein, die bis heute über keine dauerhaften, sondern bloss zeitlich befristete Einkommenssteuern verfügt.

      Viertens verwandelte sich unter dem Einfluss der Volksrechte das Politiksystem von der ursprünglichen Mehrheitsdemokratie allmählich zur Verhandlungs- oder Konsensdemokratie. Das sog. Konkordanzsystem ist geprägt durch die proportionale Vertretung und Zusammenarbeit der verschiedenen Parteien in Regierung, Parlament und bei der Besetzung von Verwaltungsstellen und Gerichten. Zudem werden in der Gesetzgebung all jene gesellschaftlichen Gruppierungen und Verbände angehört, die sich über die Fähigkeit ausweisen, ein Referendum auszulösen. Das führt zur Politik der Verständigung durch Verhandeln und zum Suchen von Kompromissen. Die Konkordanz begünstigt jene Integrationsleistungen, die für die schweizerische Gesellschaft mit ihren kulturellen Minderheiten dauerhaft erforderlich sind. Direkte Demokratie bietet die Möglichkeit der Opposition: Parteien und Verbände, die gegen Vorschläge des Parlaments zu einer Verfassungsänderung sind, bringen diese in der obligatorischen Volksabstimmung nicht selten zu Fall. Oppositionelle Kräfte ergreifen gelegentlich das Referendum gegen ein neues Gesetz, und mit Volksinitiativen bringen verschiedenste Gruppen neue Probleme und Tendenzen in die politische Arena ein. Hingegen fehlt im schweizerischen System der wichtigste Grundzug aller repräsentativen Demokratien: Es gibt keinen regelmässigen Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition, der die Ausübung politischer Macht zeitlich begrenzt und mittels Wahlen die Belohnung oder Bestrafung der Regierung für ihre vergangene Politik ermöglicht.

      Ein fünfter Punkt schweizerischer Eigenheit darf allerdings nicht unerwähnt bleiben: Im krassen Gegensatz zur frühen Demokratisierung steht die Tatsache, dass das Frauenstimmrecht in der Schweiz erst spät, nämlich 1971 eingeführt wurde. Diese weniger rühmliche Eigenheit schweizerischer Demokratie hat Gründe, die nicht notwendigerweise nur auf einer konservativeren Haltung schweizerischer Männer beruhen.6 Trotzdem hatte die Männerdemokratie bis dahin die Hälfte der Bürgerschaft von der politischen Partizipation ausgeschlossen.

      Das Gefühl, die schweizerische Demokratie sei etwas Einzigartiges, bildete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen prominenten Teil gesellschaftlicher Identität und nationalen Selbstverständnisses. Diese Vorstellung mag in den Bedrohungen des Zweiten Weltkriegs auch einen wichtigen Beitrag zur Behauptung der äusseren Unabhängigkeit und des inneren Zusammenhalts des Landes geleistet haben, ist jedoch Vergangenheit und Geschichte. Ein feindliches Umfeld europäischer Nachbarn gibt es nicht mehr, dafür die wirtschaftspolitische Integration der EU-Länder sowie gesamteuropäische Bemühungen, den Frieden kollektiv zu sichern. Demokratie verbreitet sich weltweit über den Kreis der entwickelten Industrieländer hinaus. Globalisierung, mit all ihren Licht- und Schattenseiten, befördert die weltweite Liberalisierung der Wirtschaft. Staatliche Grenzen öffnen sich. Innenpolitik wird zur Aussenpolitik, Aussenpolitik zur Innenpolitik. Was den Nationalstaaten an der Kontrolle über die Zirkulation von Kapital, Gütern, Informationen und Arbeitskräften entgeht, wird teilweise aufgefangen durch internationale, transnationale und supranationale Organismen. Dorthin verlagern sich gewichtige Teile der Politik. Der nationale Staat gewinnt Mitbestimmung im äusseren, grösseren Rahmen, verliert aber an Autonomie und Bedeutung im Inneren. Diese Verluste treffen auch die Demokratie, denn die meisten internationalen oder supranationalen Organismen sind demokratisch nur schwach legitimiert, auch wenn national legitimierte Staats- und Regierungschefs entscheiden.

      Diese Vorgänge erschüttern traditionelles schweizerisches Selbstverständnis. Dieses hat sich neu zu definieren, zumal sich Schweizerinnen und Schweizer stark mit den Werten ihres politischen Systems identifizieren. Ob nationale Autonomie, schweizerischer Föderalismus und direkte Demokratie im Falle eines EU-Beitritts noch mehr gefährdet wären als bei der Fortsetzung des bilateralen Vertragswegs, ist darum politisch stark umstritten, im Grunde aber eine noch harmlose Frage. Fundamentaler müsste gefragt werden: Welcher Stellenwert kommt nationaler Staatlichkeit und Demokratie in der Globalisierung überhaupt noch zu? Nach den Krisen des globalen Finanzkapitalismus und der europäischen Staatsschuldenkrise stellt sich diese Frage verschärft. Unterdessen ist aber auch die Einsicht gewachsen, dass der Nationalstaat mit der Globalisierung noch keineswegs irrelevant geworden ist oder abzudanken hätte. Die Beschäftigung mit den politischen Strukturen eines Nationalstaats bleibt damit von Bedeutung.

      Das folgende Kapitel 2 behandelt die Geschichte der Staatsgründung und