Dürnsteiner Puppentanz. Bernhard Görg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernhard Görg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990013687
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sein mochten. Dabei half ihm seine überragende Menschenkenntnis. Als Leiter des Ministerbüros war er im ganzen Ministerium für diese Menschenkenntnis berühmt und gefürchtet gewesen. Der Minister mochte ja über eine Reihe von Qualitäten verfügen, aber Menschenkenntnis gehörte sicher nicht dazu.

      Applaus. Applaus. Offensichtlich war der Landeshauptmann mit seiner Rede am Ende. Wenigstens etwas. Der Marsch, den die Kapelle jetzt intonierte, kam ihm irgendwie bekannt vor. Diese Amateurmusikanten spielten doch immer dasselbe. Und der Landeshauptmann griff zum Taktstock. Der war sich auch für nichts zu blöd. Naja. Jetzt noch schnell ein bis zwei Gläser Wein, dann Händeschütteln mit den Ehrengästen und ab nach Hause.

      Morgen beim Frühstück musste er seiner Britta endlich reinen Wein einschenken. War ohnehin eine schauspielerische Meisterleistung von ihm gewesen, beim gestrigen Abendessen so zu tun, als könnte er den Anruf des Ministers gar nicht mehr erwarten. Mit der Nachricht, die sie wahrscheinlich noch schlimmer treffen würde als ihn selbst, konnte er nicht länger hinterm Berg halten. Sonst würden ihm die Buschtrommeln womöglich zuvorkommen. Britta hasste dieses Niederösterreich noch mehr als er. Und überhaupt St. Pölten. In seiner Bedeutungslosigkeit höchstens von Eisenstadt übertroffen.

      Ihre Wiener Arroganz würde er nie verstehen. Schließlich hatte sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens in einer Genossenschaftswohnung in Liesing gewohnt. Auch nicht besser als St. Pölten. Aber sie tat immer so, als wäre sie in einer hochnoblen Cottage-Villa in Hietzing oder Grinzing aufgewachsen. Eines aber musste er ihr lassen: Wenn es darauf ankam, hatte sie einen geradezu sagenhaften Instinkt. Vielleicht konnte sie ihm helfen. Vielleicht konnte sie erraten, über welche Intrige er zu stolpern drohte.

      Als er von seinem Sessel aufstand, fiel sein Blick auf das von der Sonne angestrahlte blonde Haar seiner Sitznachbarin. Die Frau Landtagsabgeordnete hätte ein gutes Model für eine Shampoo-Werbung abgegeben. Ihr Haar war beinahe so perfekt wie das von… Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Um Himmels willen! Das Model! Der Polizeiball vor zwei Monaten. Konnte der schuld an der Katastrophe sein? Britta war damals jedenfalls richtig wütend auf ihn gewesen.

      Er hatte damals den Auftrag gegeben, den Polizeiball wieder zum Höhepunkt der Saison zu machen. Über die letzten Jahre war diese einst leuchtende Rose im St.Pöltner Ballkalender zu einem mickrigen Mauerblümchen verkümmert. Da galt es, keine Kosten und Mühen zu scheuen. Einem Mitglied des Organisationskomitees war die Idee gekommen, ein in Deutschland sehr bekanntes Erotik-Model für die Mitternachtseinlage zu engagieren. Das hatte ihm gefallen. Sozusagen als Kampfansage gegen den St. Pöltner Mief. Und gegen den niederösterreichischen gleich dazu. Die Lady war auch ein voller Erfolg gewesen. Bei den Medien schon im Vorfeld. Vor Ort bei den Herren aller Altersgruppen. Und auch bei den Damen, zumindest bei den jungen. Sowohl der Landeshauptmann als auch der Minister, die stark akklamierten Ehrengäste des Balls, hatten während der Vorstellung Stielaugen. Daher war er sehr zufrieden gewesen. Anders als seine Britta hatte er allerdings die Ehefrauen der beiden Politiker nicht beobachtet. Auf der Heimfahrt vom Ball war sie dann fuchsteufelswild gewesen. Warum hatte er nicht dafür gesorgt, dass die Damen der beiden hohen Herren während der Mitternachtseinlage weggelotst wurden? Ins Spielcasino im ersten Stock oder sonst wohin, wo sie die gierigen Blicke der Ehemänner nicht aus nächster Nähe mit ansehen mussten. Diese Dummheit würde ihm noch auf den Kopf fallen, hatte ihm seine Britta prophezeit. Denn der Landeshauptmann und der Minister würden ihn dafür verantwortlich machen, wenn bei ihnen der Haussegen wegen des tanzenden Models schief hing.

      Er spürte Schweiß auf seiner Stirn. Zwar konnte er nicht hundertprozentig sicher sein, ob er die Verhinderung seiner Beförderung wirklich zwei spießigen Ehefrauen zu verdanken hatte. Aber er wusste aus vielen Erlebnissen, dass der Minister unter dem Pantoffel seiner Frau nicht nur stand, sondern geradezu darunter verschwand. Britta würde in diesem Faktum ganz sicher die Ursache der Misere sehen. Und er musste zugeben, dass ihr Instinkt sie wirklich selten trog.

      Er blickte auf sein Handy, das er zu Beginn der Zeremonie auf lautlos gestellt hatte. Eine neue Nachricht: »Der Minister möchte Sie sehen. Bitte um Anruf Montag Früh.« Sein Herz machte einen Sprung. Sein ehemaliger Chef würde ihn nie zu sich bestellen, um ihm eine negative Nachricht zu geben. Dazu war er viel zu feig. Hatte er es sich doch anders überlegt?

      Freitag, 16. April 17 Uhr 20

      Zwar war es noch hell, aber die Sonne war bereits hinter den Hügeln verschwunden. Wegen den dunkel getönten Scheiben seines Wagens war von außen wohl höchstens schemenhaft zu erkennen, dass er mit dem Fernglas das Wasser absuchte. Kein anderes Auto stand auf diesem kleinen Parkplatz am Ufer. Hier war er schon oft allein gewesen. Meistens, um keine hundert Meter weiter stromaufwärts in die Donau zu steigen und sich bis Krems treiben zu lassen. Unter der Mauterner Brücke durch, wobei er dabei immer darauf versessen war, ganz nah an einen Brückenpfeiler heranzuschwimmen. Um sich seinen Mut zu beweisen. Schon als Zwölfjähriger hatte er begonnen, hart zu trainieren. Gern wäre er ein sehr schneller Schwimmer geworden. Aber andere waren noch schneller. Auch, weil er erst spät gewachsen war. Bis zum Ende der Schulzeit war er kleiner gewesen als seine Altersgenossen. Wenigstens hatte die Ausbildung zum Rettungsschwimmer geklappt.

      Jetzt saß er nicht an diesem Platz, um in die Donau zu springen und sich neuerlich seinen Mut zu beweisen. Dazu hätte er heute einen Neoprenanzug gebraucht. Die Temperatur des Wassers schätzte er wegen des langen Winters auf maximal neun Grad.

      Heute hatte seine Anwesenheit hier einen anderen Grund. Er zitterte. Obwohl es in seinem Auto sehr warm war. Er zitterte, weil er Angst hatte, sein Plan würde schon im ersten Anlauf scheitern. Dieses Zittern kannte er von früher. Fühlte sich ganz anders an als ein Frösteln, das ihm selbstverständlich ebenfalls vertraut war. Er fröstelte, wenn ihm kalt war. Er zitterte, wenn er Angst vor Misserfolg hatte.

      Durch sein Fernglas blickte er über die Donau, hinüber zur Terrasse des Schlosshotels Dürnstein. Recht voll für Mitte April. Den Menschen schien die Kühle, die vom Fluss aufstieg, nichts auszumachen. Ein Paar an der Brüstung machte immer wieder schwungvolle Bewegungen mit den Armen. Offenbar warfen die beiden ein paar frechen Spatzen Krümel von ihrer Mehlspeise zu. Weiter oben erblickte er eine Gruppe von Leuten, die den steilen Weg von der Ruine herabstiegen. Durch das Fernglas alles gut zu erkennen. Aber auf der Donau selbst regte sich nichts.

      Er war froh, im Auto sitzen zu können. Seit seiner Kindheit reagierte er äußerst empfindlich auf Kälte. Sehr robust war man in seiner Familie ja seit Generationen nicht gewesen. Sein Vater war schon im Alter von achtundfünfzig Jahren gestorben. Und seine Mutter mit vierundsechzig. Und sein Bruder sogar schon mit vierzehn.

      In letzter Zeit hatte er sich öfter bei der Frage ertappt, wie lange er wohl selbst noch leben würde. Nicht, dass ihn ein frühes Ende übermäßig gestört hätte. So toll war sein bisheriges Leben ja nicht gewesen. Viel stärker als die mögliche Dauer seines Lebens hatte ihn seit vielen Jahren die Frage beschäftigt, warum ihm von seinen Eltern nicht die Gene, die er für ein erfolgreiches Leben hätte brauchen können, in die Wiege gelegt worden waren. Er hatte Erfolgsmenschen in seinem Umfeld über Jahre studiert. Fast alle waren intelligent, zum Teil sogar hochintelligent. Es war ein Lügenmärchen, dass Erfolg im Beruf auch ohne Intelligenz zu haben war. Aber daran allein konnte es nicht liegen. Er selbst hatte ja schon als Schüler als begabt gegolten. Nicht ganz so talentiert wie sein verstorbener Bruder, aber immerhin. Seinen Beobachtungen zufolge hatten Erfolgsmenschen ihm bestimmte Eigenschaften voraus: Sie hatten wesentlich kräftigere Ellbogen, die sie nicht nur benutzten, um sich vorzudrängen. Sie rammten damit auch ohne Hemmungen alle beiseite, die ihnen im Weg standen. Sie waren berechnender und ohne Mitgefühl. Schlossen nur Freundschaft mit Menschen, von denen sie sich etwas versprachen. Und logen, ohne rot zu werden, wenn die Lüge ihren Interessen diente. Manchmal fragte er sich, ob er diese Fähigkeiten insgeheim auch alle gern gehabt hätte. Kleinere Anläufe in diese Richtung hatte er zweifellos unternommen. Aber letztlich fehlte ihm dann doch die Härte. Im letzten Moment hatte er immer zurückgezuckt. Ob er diesmal auch zurückzucken würde? Nein. Diesmal nicht. Er war fest entschlossen. Er musste es tun.

      Ungeduldig ließ er sein Fernglas über die Donau schweifen. Das Motorboot, auf das er wartete, würde er schon von Weitem sehen können. Ein ganz bestimmtes Motorboot. Wahrscheinlich würde es von Krems heraufkommen.