Der epigenetische Code hat mit elektrischen Ladungen zu tun und entfaltet weitreichende Wirkungen, die seit seiner Entdeckung Forscher und das interessierte Publikum gleichermaßen faszinieren, und die ich bereits in meinem Buch Der holistische Mensch – Wir sind mehr als die Summe unserer Organe beschrieben habe.
Ein Beispiel: Wenn Weinbauern Pestizide verwenden, schädigen sie damit ihre eigenen Keimzellen. Bekommen sie Kinder, geben sie diese Schädigungen an sie weiter. Das heißt, dass ihre Kinder Pestizid-Schäden haben, selbst dann, wenn sie keine einzige Stunde im Weingarten verbringen. Selbst dann, wenn die Weinbauern ihre Kinder unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigeben.
Der genetische Code steht somit für ein unabänderliches Schicksal, der epigenetische aber für ein veränderbares, negativ wie auch positiv, denn klarerweise lassen sich auch positive epigenetische Prägungen vererben. Was bedeutet: Ein gutes Leben schlägt Wellen in den uns nachfolgenden Generationen, ein schlechtes tut es ebenfalls. Wir beeinflussen diesen epigenetischen Code zum Beispiel durch unsere Ernährung, durch Krankheiten und durch unseren Lebensstil.
Eine Weile galt die Epigenetik sogar als die große und einzige Komponente im Bereich der biologischen Übertragung von organischen und auch psychischen beziehungsweise seelischen Faktoren von einer Generation auf die nächste. Doch dann entdeckte die evolutionäre Entwicklungsbilologie die stille, schicksalhafte Macht der dunklen DNA und der microRNA.
Was bedeutet der Begriff »dunkle DNA«, der klingt, als würde er uns in ein geheimnisvolles Reich entführen – und das zu Recht?
Um ihn zu verstehen, müssen wir wissen: Nur ein ganz kleiner Teil unserer DNA ist für die Proteine verantwortlich, aus denen wir bestehen. Es gibt auch in der DNA so etwas wie im Weltall, nämlich dunkle Materie. Nur ein kleiner Teil des Universums ist greifbare Materie. Die dunkle Materie, die wir nicht sehen, die aber extreme Bedeutung hat, ist in der Überzahl.
In der DNA besteht die dunkle Materie aus langen Sequenzen, von denen lange niemand wusste, wieso sie eigentlich da sind. Aus denen nichts abgelesen zu werden schien, kein Protein. Und die dennoch mehr als neunzig Prozent der Gesamt-DNA bilden. Nur ein kleiner Teil unseres Erbfadens wird transkribiert, der große Teil schien nichts wert zu sein, Junk-DNA eben.
Mittlerweile hat die Wissenschaft belegt, dass dem nicht so ist.
Wenn nötig, greift der Körper, wie von magischer Hand, auf diese nicht abgelesenen Junk-DNA-Stücke zurück und macht aus ihnen RNA-Stücke. Plötzlich sind die Nichtsnutze etwas wert. Auf einmal haben sie eine Funktion, eine, die vorher gar nicht da war. Mit einem Mal ist da eine neue Möglichkeit des Überlebens.
Ein Beispiel aus der Biologie: Durch die Erderwärmung ändert sich die Fruchtbechergeometrie bei Pflanzen. Genau dort, wo der Nektar enthalten ist. Die Distanz zur Pflanzenoberfläche wird größer und der Fruchtbecher verändert sich, schließt sich praktisch, um den Nektar besser vor der Wärme zu schützen. Mit der Zeit orientieren sich die Insekten daran und passen sich an. Sie bekommen längere Rüssel. Dafür ist wahrscheinlich die Junk-DNA mitverantwortlich. Ihr Organismus holt aus ihrer nicht abgelesenen DNA plötzlich etwas wie aus einem Zauberhut hervor und daraus entsteht etwas Neues.
Ein anderes Phänomen, das wundersam erscheint, aber gar nicht wundersam ist: In der Natur gibt es Bakterien, die Glucose nicht abbauen können. Wenn man diese Bakterien allerdings über lange Zeit in glucosereiches Material gibt, dann tun sie, was sie nie konnten, nämlich Glucose abbauen. Sie greifen auf ein schwarzes Energieloch in ihrer DNA zurück.
Das alles ist Anpassung, das ist Evolution.
Ein Beispiel, das sich so in der Geschichte der Menschheit abgespielt haben oder theoretisch noch abspielen könnte: Eine Hungersnot bricht aus. Wir, die Menschheit oder zumindest ein Teil davon, können uns plötzlich nicht mehr ernähren. Nun liest unser Körper die dunkle Gen-Materie ab und wird dort fündig: Er bringt ein Enzym hervor, mit dessen Hilfe wir Dinge verdauen können, die wir bisher nicht verdauen konnten.
Die dunkle Gen-Materie hat in der Menschheitsgeschichte zweifellos schon die wertvollsten Dienste geleistet. Wer weiß, was sich dort noch alles an Bauplänen befindet. Sie ist ein Schatz an allem, das Menschen schon einmal waren und das sie noch werden können. Und selbst, wenn wir uns noch nicht einmal die Frage stellen, wie all diese stille Information in die DNA gelangt ist, wer sie dort hineingeschrieben hat, bildet sie eine geheimnisvolle Welt voller Abenteuer für die Forschung, die besonders deutlich macht, was für ein großartiges Wunder alles Leben ist.
Einen völlig neuen Aspekt brachte eine Erkenntnis über die Viren in unserem Genom. Sie sind die längste Zeit ruhiggestellt, aber wenn es der Teufel will, und unser Körper etwas braucht, was nur die Virus-DNA hervorbringen kann, dann schaltet er dieses Fremd-DNA-Gut ein. Und dieses Virus-Genom bildet dann plötzlich ein Virus-Protein, weil es dem Körper hilft, sich an eine bestimmte Situation anzupassen. Wobei das Ganze für uns auch schiefgehen kann. Virus-DNA kann auch Krebs erzeugen, wenn sie ohne Erlaubnis abgelesen wird. Früher sagte man: Das ist zufällig, das ist schicksalhaft. Mitnichten. Da sind einfach Kräfte am Werk, die wir bisher nicht kannten.
Womit wir beim dritten Punkt sind, der microRNA. Bei diesen winzig kleinen RNA-Stücken, die der Körper nicht hervorbringt, um ein Protein zu bilden, sondern um regulativ in die Gene einzugreifen. Es geht um Anpassungskontrolle. MicroRNA, das sind sozusagen die kleinen Männchen, die die Evolution steuern und die das Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie als »mächtige Winzlinge« bezeichnet.
Mächtig sind sie deshalb, weil sie darüber mitbestimmen, welche unserer Gene zum Einsatz kommen. Sie können Gene aktivieren oder stilllegen. Stilllegen zum Beispiel kann gut sein, wenn sie dabei ein Gen nehmen, das uns für eine bestimmte Krankheit prädestiniert, und es kann schlecht sein, wenn es eins ist, das uns besondere Leistungen, körperliche oder auch musische oder mathematische, ermöglichen würde.
Nehmen wir das Laufen.
Wenn wir laufen, glaubt unser Körper aufgrund urzeitlicher Prägungen, dass wir auf der Flucht sind. Deshalb stellt er mithilfe der microRNA neue Vernetzungen im Gehirn her. Wozu? Weil auf der Flucht zu sein für unseren Körper bedeutet, bedroht zu sein. Von jemandem verfolgt und möglicherweise angegriffen zu werden. Weshalb er Maßnahmen ergreift, um unsere Aufmerksamkeit zu schärfen, besser gesagt: um unsere neurologischen Möglichkeiten, aufmerksam zu sein und Angreifer frühzeitig zu bemerken, zu verbessern. So ganz nebenbei sind diese Vernetzungen auch eine wunderbare Prävention gegen Alzheimer. Daran sind die Steinzeitmenschen zwar noch nicht erkrankt, weil sie dafür nicht alt genug wurden, aber es funktioniert trotzdem.
Die Forschung hat das Wirken der microRNA inzwischen weitgehend entschlüsselt. Sie regelt die Aktivität einer Vielzahl von Genen gleichzeitig. Beim Menschen scheinen mehr als sechzig Prozent aller Gene durch microRNAs beeinflusst zu werden. Rund siebzig Prozent der bekannten microRNAs befinden sich im Gehirn. Sie steuern dort wie im Beispiel mit dem Laufen die Aktivität vieler wichtiger Gene, und sie beeinflussen unter anderem die Struktur, Funktion und Verknüpfung von Nervenzellen. Sie haben auf diese Weise auch enorme Auswirkungen auf unser Verhalten und unsere Intelligenz, auf unser Bewusstsein.
Auch unser Befinden beeinflussen sie und bieten so Schutz vor Depressionen. Wissenschaftler des Max-Planck-Weizmann-Labors für experimentelle Neuropsychiatrie und Verhaltensneurogenetik haben die Aufgabe von microRNAs in Nervenzellen untersucht, die Serotonin produzieren – also jenen Botenstoff, der Appetit, Schmerzempfinden oder Gefühlsregungen beeinflusst und der gemeinhin als Glückshormon gilt. Die Forscher haben dabei eine spezielle microRNA identifiziert, die im Gehirn und im Blut von depressiven Patienten im Vergleich zu Kontrollprobanden in geringeren Mengen vorkommt.
Die mächtigen, schicksalhaft wirkenden Winzlinge microRNA, auch das hat die Forschung herausgefunden, sind davon abhängig, in welchem Zustand wir sie von unseren Eltern übernommen haben, aber auch davon, was um uns selbst herum geschieht, welchen Umweltfaktoren wir ausgesetzt sind, was wir eben so erleben. Schicksal, das wir selbst in der Hand haben, ähnlich wie die schicksalhaften epigenetischen Prägungen. Was wir denken, was wir fühlen und was wir tun, das zeigt auch