Johannes Huber:
Die Anatomie des Schicksals
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 edition a, Wien
Cover und Gestaltung: Isabella Starowicz
Lektorat: Thomas Schrems
ISBN 978-3-99001-360-1
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
»Ich habe das Gestern gesehen,
ich kenne das Morgen.«
(Inschrift am Totenschrein
Tut-anch-Amuns)
Inhalt
Das Wunder des wandelbaren Schicksals
Die Stunde Null des Schicksals
Die schicksalhaften ersten Monate
Was Sie erwartet
Claudia, Pressesprecherin meines Verlages, erinnert sich an Kaffeelöffel in der Küchenlade ihrer Mutter, auf denen die Initialien F. E. standen. Manchmal fragte sie sich, wem die gehörten, aber die Antwort darauf war ihr dann auch wieder nicht wichtig genug, um sich bei ihren Eltern danach zu erkundigen.
Schließlich interessierte sich Claudia als Kind für ganz andere Dinge als für Küchenutensilien. Vor allem für Jazzdance. Sie belegte Kurse, ohne dass ihre Eltern sie extra dazu ermutigen mussten. Später ging sie zum Ballett, und als sie von einem besseren Kurs hörte, der weiter entfernt war, wollte sie da hin.
Die Familie hatte nur ein Auto, mit dem der Vater beruflich unterwegs war, und Claudia hatte noch einen kleinen Bruder, weshalb ihre Mutter zögerte. »Wenn du in diesen Kurs willst, musst du zu Fuß gehen«, sagte sie. Claudia war das egal. Einmal die Woche ging sie unbekümmert die drei Kilometer hin und wieder zurück.
Nach ihrem Studium der Verlagswissenschaften in Rom arbeitete die frisch gebackene Dottoressa eine Weile bei einem Medienunternehmen in Dublin, doch nach einem halben Jahr gab sie den Job wieder auf. Einer der Gründe: Sie konnte dort nicht tanzen. Die wenigen Angebote, die es gab, waren teuer. Es war kein Drama für sie, aber da fehlte etwas. Tanzen gehörte einfach zu ihr.
Als sie nach Wien kam, entdeckte sie, den Traditionen der Stadt entsprechend, den Paartanz für sich. Und natürlich weiß sie längst, was die Initialen F. E. bedeuten, die sie mit der Zeit nicht nur auf Kaffeelöffeln, sondern auch auf allem möglichen Besteck und Geschirr im elterlichen Haushalt entdeckte. Es waren die Initialien der Wienerin Fanny Elßler, die von 1810 bis 1884 lebte und als Tänzerin Weltruhm erlangte. Sie war eine Vorfahrin Claudias in der mütterlichen Linie.
Gene?
Eher nicht.
In diesem Buch werden Sie erfahren, dass Ihrem Schicksal, das Sie bisher vielleicht für gottgegeben oder vom Zufall oder Ihren Genen bestimmt hielten, biologische Prozesse zugrunde liegen. Prozesse, die moderne Wissenschaften wie die evolutionäre Entwicklungsbiologie zunehmend erforschen, und die Ihr Bild von sich selbst, von Ihren Mitmenschen und von ganzen Gesellschaften und Kulturen verändern werden.
Sie werden zum Beispiel lesen, dass es schicksalhaft prägend für Sie war, was Ihre Vorfahren, auch solche, die Sie nie kennengelernt haben, so den ganzen Tag getrieben haben, wie sie gelebt, gedacht und gefühlt haben. Dass Ihre Eltern vielleicht Mut oder auch Angst auf Sie übertragen haben. Sie werden verstehen, warum manche Kinder als kleine Sonnenscheine zur Welt kommen, während andere vom ersten Tag an in sich gekehrt sind. Sie werden sehen, welche Rolle dabei die Umwelt spielt, warum Liebe stärker ist als die DNA oder wie, medizinisch gesehen, Gedanken zu Worten, Worte zu Taten und Taten zu Schicksal werden.
Sie werden auch einen Eindruck davon bekommen, warum es, nüchtern biologisch betrachtet, über Ihr eigenes Leben hinaus wirkt und Wellen in der Zukunft schlägt, wenn Sie an sich arbeiten. Und sie werden eine naturwissenschaftliche Erklärung für das Phänomen lesen, das der Volksmund als »Fluch« kennt: Es ist tatsächlich möglich, dass etwas, das aus der Vergangenheit kommt, durch Ihr Leben spukt.
Sie werden dabei erkennen, dass Ihr Schicksal niemals festgelegt ist, dass immer alles in Bewegung ist, in Entwicklung, und dass Sie diese Entwicklung zu Ihrem eigenen Vorteil und zu dem Ihrer Kinder beeinflussen können.
Ich glaube und hoffe, dass Sie wie ich das Bedürfnis haben werden, dieses Wissen an andere weiterzugeben. Denn es zeigt auf naturwissenschaftlicher Ebene, wie wichtig unser Respekt vor der Natur, vor unseren Mitmenschen und vor uns selbst wirklich ist, und macht mit revolutionären neuen Einblicken in das Wesen Mensch toleranter gegenüber der Vielfalt dessen, was Menschsein bedeuten kann.
Johannes Huber
Oktober 2019
Das Wunder des wandelbaren Schicksals
Wir sehen den Planeten von oben, aus dem Weltraum.
Ein blauer Ball, umgeben von der Schwärze des Kosmos. Alles wirkt vertraut. Der Ozean, die Kontinente, orangerote und ockerfarbene Erdmassive. Wolkenströme, die wie watteweiße Schlieren über das saphirblaue Meer ziehen. Deutlich erkennbare Wetterphänomene. Der Planet hat eine Atmosphäre. Das Klima ist angenehm mild. Jemand könnte hier wandern oder segeln, am Strand liegen und ein Buch lesen oder nachts hinaufschauen und die Sterne zählen. Dort glitzern Millionen Solitäre auf schwarzem Samt. Die Luft ist rein und frisch in dieser Welt. Fantastisch klar.
Der Planet ist nicht die Erde.
Es ist die Venus.
Vor zwei Milliarden Jahren.
Michael Way und seine Kollegen vom Goddard Institute of Space Studies bei der NASA rekonstruierten das Bild in einer Klimasimulation, ausgehend von den Daten der Pioneer-Sonde und der Magellan-Mission. Wasser, Berge, Seen, ein globaler Ozean. Die paradiesischen Bedingungen lassen vermuten, dass es damals auch Leben auf der Venus gegeben hat.
Und dann, vor 750 Millionen Jahren und ein paar Tagen, war es aus.
Die Venus verwandelte sich in einen Höllenplaneten mit extrem dichter Kohlendioxid-Atmosphäre und einer durchschnittlichen Temperatur von plus 460 Grad. Dort wandert, segelt oder liegt es sich nicht