Unbewusste Denkprozesse
Der niederländische Sozialpsychologe Ap Dijksterhuis fand anhand mehrerer Studien heraus, dass intensives, bewusstes Nachdenken nicht automatisch zu den besten Entscheidungen führt. Entspannt zu sein dagegen hilft sehr wohl.21
Sogar wenn wir mit aller Kraft versuchen, eine sinnvolle Entscheidung zu treffen, klappt es oft nicht, meint Dijksterhuis. Denn das Gehirn kann die Informationen zwar sammeln, aber nicht gleichzeitig verarbeiten. Anders ausgedrückt: Grübeln bring nichts. Je komplexer das Problem ist, desto eher sollten wir es deshalb unbewussten Denkprozessen anvertrauen, rät er. Was begründet, warum manche Menschen ihre besten Ideen morgens unter der Dusche haben.
Wir sollten also bei unserem Versuch, gut zu sein und gute Entscheidungen zu treffen, auch die Hintergrundaktivitäten unseres Gehirns zulassen, seine Eigeninitiativen sozusagen, zu denen es immer dann fähig ist, wenn wir es nicht gerade selbst beschäftigen. Die Religionen sprechen in diesem Zusammenhang von Medita tion und Gebet.
Die Wissenschaft bezeichnet die für die Hintergrundaktivitäten des Gehirns zuständigen Regionen als Default Mode Network. Dieses Netzwerk ist sozusagen unsere körpereigene Kreativagentur. Und unsere Kreativität ist gefragt, wenn wir uns verändern wollen. Denn dieses Vorhaben konfrontiert uns ständig mit neuen Situationen oder zwingt uns, mit vertrauten Situationen neu umzugehen.
Glymphatisch zu leben bedeutet, bis zum Ende durchgedacht, auch einen positiven Kreislauf in Gang zu setzen, der uns irgendwann von selbst vorwärtsbringt. Wer es schafft, den ersten Impuls systematisch verstreichen zu lassen und wichtige sowie emotional besonders stark aufgeladene Entscheidungen erst am nächsten Vormittag zu treffen, wird mit seinen Mitmenschen besser im Einklang stehen und deshalb insgesamt weniger Gedankenmüll aufbauen.
Er wird weniger Stress und Ängste haben und damit auch unaufschiebbare, sofort nötige Entscheidungen besser treffen. Letztendlich ist die Kunst, den ersten Impuls möglichst verstreichen zu lassen und die Sache erst einmal zu überschlafen, die wichtigste Vorstufe für die Kunst der Gelassenheit.
Charakterfitness-Trainingsstufe zwei:
Entgifte deine Emotionen
Die regelmäßige Beichte ist mehr als eine von der Kirche auferlegte Pflicht im Sinne christlicher Traditionen. Im Grunde versucht sie, etwas zu systematisieren, das uns tatsächlich hilft, bessere Menschen zu werden: Die Entgiftung unseres Gehirns durch Reden über die Dinge, die wir uns selbst vorwerfen. Das wir uns damit befreien und bereit für gutes Neues machen, wissen längst auch die Gehirn- und Verhaltensforschung.
Jeder Mensch macht Fehler. Kleine oder gravierende, unbedeutende oder unbedachte. Ein falsches Wort hier, eine Notlüge da. Die Patzer summieren sich und bilden einen Schmierfilm rund um unsere Seele. Falsche Entscheidungen, vielleicht verbunden mit weitreichenden Konsequenzen, lasten auf unserer Seele. Einmal falsch abgebogen, und schon scheint es kein Zurück mehr zu geben. Der Weg scheint verbaut, die Türen scheinen zugeschlagen zu sein, die Aussichten wirken trüb. Wie ein riesiger Stein liegt die Vergangenheit auf unserem Gemüt. Ein schwarzer Monolith, der ein unangenehmes Grundrauschen erzeugt, negative Wellen aussendet und nach und nach unsere Gefühle, unsere Gedanken und am Ende unsere Taten vergiftet.
Um diesen Monolithen loszuwerden und unsere Gedanken damit zu entgiften, gibt es eine bewehrte Methode. Sie besteht darin, uns mitzuteilen. Die Regelung, die das Christentum dafür anbietet, ist die Beichte. Den Erfindern ging es wahrscheinlich weniger um ein paar Gebete, die der Beichtende zur Vergebung seiner Sünden zu beten hatte, sondern vielmehr um die Entgiftung des Geistes, auch wenn sie es so kaum genannt hätten.
Der Mensch benennt dabei seine Fehler. Er spricht sie aus. Das Gespräch mit einem Menschen, dem er vertraut, befreit ihn und nimmt den Krampf von seiner Seele. Diese Vertrauensperson muss jeder für sich selbst auswählen, und es macht dabei jedenfalls Sinn, dass sie an ein Schweigegelübde gebunden ist. Schließlich wollen wir nicht jedermann in unsere Abgründe blicken lassen.
Dass eine andere Berufsgruppe, die ebenfalls schweigen muss, das ebenso gut und mitunter auch besser kann als Geistliche, das sieht sogar der Wiener Dompfarrer Anton Faber so. Seit 2018 bietet der Wiener Stephansdom Beichten von 7 bis 22 Uhr an, und zwar in fünfzig Sprachen. Der heftige Ansturm veranlasste ihn, »schwere Fälle«, wie er es nannte, an Psychotherapeuten weiterzuleiten.
Ein Geistlicher, ein Psychotherapeut oder ein vertrauter Freund – wen immer wir auswählen, um uns mitzuteilen und unsere Gedanken dabei zu entgiften, muss wertfrei zuhören können. Er darf nicht urteilen. Er muss in diesem Gespräch über den Dingen stehen. Auf diese Art nimmt er uns am ehesten eine Last ab, sodass wir danach wieder flexibler, beweglicher und leichtfüßiger sind, und uns frei von Dunklem in unserem Kopf leichter tun, gut im Sinne des von uns gewollten Gutseins zu sein. Es ist eine Übung, der wir uns regelmäßig widmen sollten, und nicht erst, wenn der Druck besonders groß ist. Wir sollten sehr bewusst damit umgehen und sie zum Teil unserer Zeitplanung machen.
Christliche Gepflogenheiten gehören auch zum Weisheitsschatz der Menschheit. Das Bekennen und das Suchen nach Vergebung ist seit den Zeiten der griechischen Tragödie alteuropäisches Erbe, das sich bis in die heutige Psychoanalyse und Logotherapie fortgesetzt hat. Schon in der antiken Orestie, der einzigen erhaltenen Trilogie griechischer Tragödien, lebte diese Sehnsucht im Hintergrund des alten Mythos. Nur die Gnade der Gottheit spricht deren Orest, den Sohn des Agamemnon, frei. Der Dichter Aischillos hat daraus in großartiger Schau den Kampf zwischen den alten Göttern der Gerechtigkeit und den jungen Göttern der Gnade gemacht und damit zum ersten Mal betont, dass der Mensch sich selbst von seiner Untat gar nicht befreien kann. Auch weil er möglicherweise gar nicht allein dafür verantwortlich ist.
Christliches Vokabular mit Worten wie »Schuld«, »Eingestehen« oder »Vergebung« bereinigt also unser Leben, und wenn wir das Ganze naturwissenschaftlich betrachten, sehen wir rasch, dass da einiges dran ist.
So beschäftigte sich eine Studie der Universität von Iowa, durchgeführt an älteren Menschen, mit dem Zusammenhang zwischen der Sterblichkeit und der Anzahl der Kirchenbesuche. Die Forscher entdeckten eine eigentümliche Korrelation. Je häufiger die Probanden die Kirche besuchten, desto geringer war der Anteil eines bestimmten Entzündungsmarkers. Was im Rahmen der durchgeführten Langzeitbeobachtung auch das Sterblichkeitsrisiko senkte. Als hätte ein höheres Wesen seine schützende Hand über die Gläubigen ausgebreitet.
Die Studie erregte naturgemäß den Zorn der Atheisten. Kirchen als Jungbrunnen darzustellen, wäre ein Wunschtraum, zu dem nur Spinner in der Lage wären, meinten sie. Dem hielten die verantwortlichen Wissenschaftler entgegen, dass die Probanden eben an etwas glaubten, und schon allein diese Gewissheit brächte inneren Frieden. Doch dazu wie angekündigt mehr im zweiten Teil.
Absurderweise haben sich im Internet auch Hunderte digitale Möglichkeiten etabliert, Abbitte zu leisten, etwa auf www.beichthaus.com: Sünde wählen, Klick, dann die Vergehen im Raster definieren. Aggression, Begehrlichkeit, Eitelkeit, Faulheit, Fremdgehen, Lügen, Masturbation, Schamlosigkeit, Trägheit, Trunksucht, Vandalismus, Verschwendung und Verrat.
Per E-Mail kann der Sünder präzisieren, was er sich im Detail vorwirft beziehungsweise was er verbrochen hat. Was natürlich nicht funktioniert. Der dunkle Monolith bleibt dabei im Kopf. Es braucht die persönliche menschliche Interaktion, um ihn aufzulösen. Nur der Dialog von Mensch zu Mensch reinigt die Seele und den Körper gleich mit dazu.
Zu den großen Vorteilen des sich Mitteilens bei unserem Versuch, gut zu sein, gehört, dass wir damit eine Ventilfunktion bedienen. Es federt den Zorn ab, den wir andernfalls vielleicht an anderen auslassen, was