Die Kampagne schuf auch einen neuen Online-Trend bei Essens-Postings. Die Fotos zeigen nicht nur wie bisher das Essen selbst, sondern auch die leeren Teller danach.
Das der Kampagne zugrunde liegende Problem ist real. Die chinesische Sektion des WWF schätzt, dass in China 17 bis 18 Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich weggeworfen werden. 38 Prozent des in Restaurants bestellten Essens wird entsorgt. Trotzdem macht die kollektive Erinnerung an die Zeiten Mao Zedongs, als Sparsamkeitskampagnen häufig waren und oft mit Hungersnöten einhergingen, manche Chinesen auch misstrauisch. Andere sehen die Kampagne im Zusammenhang mit Staatschef Xi Jinpings Programm, China inmitten von Handelskrieg, Corona und Flutkatastrophen autarker zu machen. Selbst beim »leeren Teller«, schrieb die Parteizeitung Renmin Ribao, gehe es letztlich um die Staatssicherheit.10
Das ist eben der große kulturelle Unterschied zwischen beiden Kontinenten: In Europa können wir unser individuelles moralisches Korsett entwickeln und freiwillig gute Menschen sein (und damit in Steiners und Nietzsches Sinn über uns hinauswachsen), die Chinesen müssen bloß staatliche Regeln befolgen, um als gut zu gelten. Für kleinste Fehler wie das Überschreiten einer Straße bei Rot bekommen sie soziale Strafpunkte, die sie klassifizieren. Wer keine oder wenige Strafpunkte hat, steht in der sozialen Hierarchie weit oben und gewinnt. Wer viele hat, stürzt ab und verliert.11
Die chinesische Variante von Amazon heißt Alibaba und zählt zu den zehn erfolgreichsten Unternehmen der Welt. Alibaba verkauft nicht nur Güter, sondern übt auch einen unsichtbaren Zwang aus, der dem Staat helfen soll, die Menschen zu erziehen. Es ist wie bei der Dressur eines Hundes.
Die entscheidenden Projekte dabei heißen Himmelsnetz und Adleraugen. Die schönen Worte bezeichnen ein lückenloses Überwachungssystem durch sechshundert Millionen intelligente Kameras. Diese Augen spähen 24 Stunden durch die Straßen und Gassen, sie erkennen Gesichter und errechnen Wege, speichern Gewohnheiten und melden Verfehlungen aller Art. Die Chinesen müssen sich benehmen, und es ist keine Frage ihres freien Willens, gut zu sein oder besser zu werden. Der Staat regelt das mit elektronischer Präzision und kompromissloser Härte.
Alibaba hat dabei in Kooperation mit der Regierung einen smarten Dienst in die Welt gesetzt: Sesame Credit. Der Handelsriese verleiht Geld und das System überwacht, wie verlässlich die Kreditnehmer eingegangenen Verpflichtungen nachkommen. Wieder gibt es Gut-oder Schlechtpunkte und gleichzeitig prüft Sesame Credit im Hintergrund die Vertrauenswürdigkeit aller Kunden. Wohnt sie oder er allein oder mit Familie? Wie oft wechselt jemand die Adresse? Aus solchen Daten generiert Sesame Credit dann Urteile darüber, ob jemand vertrauenswürdig oder etwa unstet ist.
Dazu kommen Detailfragen und Analysen. Was kauft jemand? Windeln? Hervorragend, ein Hausmann oder eine Hausfrau. Gut. Videospiele? Verdächtig. Schlecht. Alkohol? Alles klar. Tabletten in der Online-Apotheke? Welche denn? Kauft er Bücher? Romane oder politische Bücher? Streamt er amerikanische Serien? Ist jemand Romantiker? Kauft er oder sie Blumen, Parfüms, Gutscheine oder Schmuck? Schaut er oder sie Pornos? Inwieweit sind über jemanden ausreichend Daten vorhanden, und wenn nicht, warum nicht? Was hat er oder sie zu verbergen? Nimmt dieser Mensch die Annehmlichkeiten der Digitalisierung an oder weigert er sich, elektronisch zu kooperieren? Was macht er beruflich? Schreibt er einen Blog? Ist er öffentlich präsent? Übt er womöglich Systemkritik? Oder treibt jemand aus seiner Familie oder aus seinem Freundeskreis etwas, das verdächtig sein könnte?
Ob damit gute Menschen oder nur gehorsame erzeugt werden, ist allerdings fraglich. Denn Gewalttaten sind in China, wie neueste Zahlen zeigen, keine Seltenheit. So etwa ist dort Gewalt gegen Ärzte ein verbreitetes Problem, für das es sogar einen eigenen Begriff gibt: Yinao. Zu den Ursachen zählen mangelndes Vertrauen in das Gesundheitssystem, die Annahme, ein verstorbener Angehöriger sei nicht gut genug versorgt worden, aber teils auch der Versuch, Entschädigungszahlungen zu erpressen.12
Das ist der zentrale ethische Unterschied zwischen Europa und China. Gut sein gemäß einer eigenen besseren Vision von sich selbst und durch eigene Erkenntnis versus gut sein nach einem staatlichen Muster mit staatlichem Zwang.
Was funktioniert besser? Was lässt mehr Menschen über sich hinauswachsen? Was macht die Individuen und den Staat, den sie bilden, stärker? Was davon führt im besten Fall zu nachhaltiger Stärke und was nur zu hohler Dominanz? Wir werden alle noch erleben, wie sich der Wettbewerb zwischen dem europäischen und dem chinesischen Weltbild weiterentwickeln wird.
Der dringende Bedarf an besseren Menschen
Europa war immer überzeugt, dass der Mensch aus freien Stücken ein Athlet im Gutsein werden kann. »Du musst dein Leben ändern«, das war bereits vor Jahrzehnten das ethische Postulat des bereits genannten Philosophen Peter Sloterdijk, der damit den Schlussvers des 1908 in Paris entstandenen Sonetts Rainer Maria Rilkes Archaischer Torso Apollos zitierte.13 Die Übung darin brauchen wir heute wahrscheinlich mehr denn je. Wir müssen uns im Füreinander-da-Sein üben, im Zusammenhalten, im Kooperieren, in der Loyalität und Treue und in der Bescheidenheit, und all das nicht nur in Bezug auf alle anderen Menschen auf diesem Planeten, sondern auch in Bezug auf die Umwelt. Sonst werden unsere Ökosysteme, die Kultur und unserer gesamten Erde kollabieren und danach wird nichts mehr so sein, wie es bisher war. Der Klimawandel und die COVID-19-Pandemie sind Alarmsirenen, die an Lautstärke nicht mehr zu überbieten sind. Peter Sloterdijk fasste das so zusammen: »Es geht hier um eine Entwicklung, für die ich vor einigen Jahren einmal den Ausdruck »Ko-Immunität« vorgeschlagen habe. Auch wenn wir also keine geborenen Naturschützer sind, so sollten wir doch so klug sein, uns noch für eine Weile als Überlebensanwärter auf diesem durch das Weltall rasenden Planeten zu sehen.«14
Dennoch verschließen wir die Ohren. Wir üben uns in allem, nur nicht in uns selbst. Doch genau darauf käme es an. Wir kommen auch so, wie wir sind, durchs Leben, denken wir. Diesen Stress brauchen wir nicht auch noch, bei allem anderen, was wir so zu tun haben. Wir mögen es nicht, dieses Üben unseres Charakters. Es klingt ein wenig nach Bibelstunde und anderen Dingen, die uns auf freudlose Weise gefangen halten.
Der amerikanischen Forscherin Laurie Santos ist es geglückt, zu demonstrieren, wie falsch diese Einschätzung ist. Es ist ihr gelungen, zu zeigen, dass wir gerade damit der Knechtschaft der Einsamkeit, des Unglücks, der Depression oder einfach des in unserer ganzen Welt um sich greifenden Hohlgefühls entkommen können. Es ist ihr auch gelungen, zu zeigen, dass wir genau damit zurückfinden zu Glück, Freude, Gemeinschaft, Kraft und Motivation. Charakterfitness ist der goldene Schlüssel für ein gutes Leben und darüber hinaus, wie dieses Buch noch zeigen wird, auch so etwas wie ein goldener Schlüssel zur Ewigkeit.
Wenn Millionen Menschen täglich auf Laufbändern rennen und Gewichte stemmen, um ihren Körper zu trainieren, müsste so etwas doch auch für den Geist möglich sein. Klimmzüge für eine bessere Gesinnung sozusagen. Liegestütze für den Frohsinn und ein Ergometer für die inneren Werte. Warum gibt es das nicht, ein Trainingsprogramm für den Charakter, das womöglich auch noch Spaß macht und aufregend ist, wenn die Effekte davon unser Leben und vielleicht auch alles, was nach dem Leben kommt, so viel besser macht?
Es ist nicht so, dass es ein solches Trainingsprogramm ganz und gar fehlt. Uralte spirituelle Traditionen kennen einige derartige »Fitnessgeräte«, und die Naturwissenschaften kennen zumindest einige Bestandteile solcher Geräte, die wir nur zusammenbauen müssen.
Bei den spirituellen Traditionen wären sowohl christliche Kirchen wie auch Freimaurer hervorzuheben, die immer überzeugt waren, dass die ständige Arbeit an uns selbst zu Selbsterkenntnis und einem menschlicheren Verhalten führt. Für Letztere geht es deshalb darum, ihre fünf Grundideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität im Alltag praktisch einzuüben.
Bei den Naturwissenschaften wären die Epigenetik, oder die Endokrinologie, die Wissenschaft von den Hormondrüsen, hervorzuheben, die gezeigt haben, dass wir kraft unseres Willens, bessere Menschen zu werden, sogar unsere Bio- und Neurochemie ändern können (siehe auch Teil 3). Wir haben