Dürnsteiner Himmelfahrt. Bernhard Görg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernhard Görg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990014493
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die reinste Folter für sie sein, sich zurückzuhalten. Davon musste er sie jetzt erlösen. »Findest du mich zu dick?«, fragte er und schaute ihr unvermittelt in die Augen.

      Im ersten Moment schaute sie nur verdutzt.

      »Du siehst, ich esse gerne«, legte er nach. »Aber vielleicht findest du meinen Appetit ja ungesund.«

      Sie lachte auf und schüttelte energisch den Kopf. »Du bist ein stattliches Mannsbild, genau richtig für meinen Geschmack.« Sie errötete.

      Nun kam es drauf an. »Du hingegen«, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hob er mahnend die gebackene Hühnerkeule, »bist für meinen Geschmack zu schlank.«

      Sie war so verblüfft über diese Ansage, dass ihr der Mund offenstand.

      Er schaute ihr noch immer geradewegs in die Augen und zuckte mit keiner Wimper. »Das ist mein Ernst. Zu mir passt nur eine Frau, die genauso gerne isst wie ich.« Er nahm einen Bissen Huhn, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden.

      Einige Sekunden lang saß sie nur da und erwiderte prüfend seinen Blick. Schließlich lächelte sie, steckte sich ein ordentliches Stück Schweinsbraten samt Knödel auf die Gabel und hob sie mahnend wie er vorhin die Hühnerkeule. »Du bist ein kluger Mann, Herr Chefinspektor. Okay, ich esse auch gerne. Und gerne zu zweit. Nur eines musst du mir versprechen.« Sie schob sich den Braten in den Mund und ließ ihn warten, bis sie genüsslich gekaut und runtergeschluckt hatte. Währenddessen füllte sie die Gläser mit Wein und reichte ihm eines. »Du musst mir hoch und heilig versprechen, dass du den Mut haben wirst, mir ganz ehrlich zu sagen, wenn du mich zu dick findest.«

      Er zuckte lässig mit den Achseln. »Wenn’s weiter nichts ist. Das verspreche ich dir.« Zur Bekräftigung hob er das Glas und stieß mit ihr an.

      In diesem Moment läutete sein Handy. Seine Chefin.

      »Schönen Nachmittag! Gibt es etwas, was nicht bis morgen warten könnte? Ich bin nämlich gerade dabei, Überstunden abzubauen.«

      »Seit wann kümmerst du dich um Überstunden?«, fragte Doris. »Wo bist du überhaupt?«

      »Beim Heurigen. Die haben hier ein mit Wiesenkräutern gespicktes Backhendel. Halleluja.«

      »Bist du allein?«

      »Wo denkst du hin? Der Heurige ist bummvoll.«

      »Na dann viel Vergnügen beim Überstundenabbau. Ich komme gerade vom Landeshauptmann. Fürchte, es kommt Ärger auf uns zu. Wir sehen uns morgen früh. Einen schönen Gruß auch an deine Begleitung.«

      Donnerstag, 23. Juni 14 Uhr 40

      Am Vormittag war Josefa Machherndl ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgegangen. In der Stiftskirche. Unter den gütigen Augen der goldenen Heiligen. Heute mit besonderer Hingabe. Stand doch bald wieder einmal eine Halbjahresbilanz an. Noch sieben Tage. Da sie es nicht erwarten konnte, hatte sie gestern Abend eine Vor-Halbjahresbilanz gezogen. Bisher von Jänner bis Juni 440 Beichten in der Dürnsteiner Stiftskirche, 49 weniger als im Vorjahr. Das war in der letzten Woche bestimmt nicht aufzuholen. Das Volk wurde immer ungläubiger. Gleichzeitig, und das war noch wesentlich bedenklicher, um 24 mehr Beichten, die über sechs Minuten dauerten, und die sie immer in der Alarmfarbe Rot protokollierte. Beichten dieser Länge konnten nur das Bekennen von besonders verabscheuungswürdigen Todsünden bedeuten, deretwegen einem der Beichtvater lang ins Gewissen reden musste. Auch wenn Josefa Machherndl die absolute Genauigkeit ihrer Aufzeichnungen nicht beschwören mochte, weil sie Zahl und Dauer der Beichten ja nur im Geheimen und während ihrer Arbeit am Blumenschmuck der Kirche notieren konnte, so war der Trend doch deutlich und ein Beweis dafür, dass die Dürnsteinerinnen und Dürnsteiner immer mehr zum willigen Opfer des Satans wurden. Ihre Zahlen logen nicht.

      Sie erstellte diese Aufzeichnungen jetzt seit mehr als vier Jahren. Seit sie als Gemeindesekretärin vom Dürnsteiner Bürgermeister gegen ihren Willen in Pension geschickt worden war. Wenn sie schon nicht mehr im Dienst der Gemeinde tätig sein durfte, dann wollte sie im Dienst einer höheren Instanz arbeiten. Für den Herrn und Erlöser. Eine ungemein befriedigende Aufgabe. Ärgerlich nur, dass daran niemand in der ganzen kirchlichen Hierarchie ein Interesse zu haben schien. Offensichtlich stand der Kirche das Wasser noch immer nicht bis zum Hals.

      Nach dem Ende der Beichtzeiten in der Stiftskirche war sie mit ihrem Fahrrad von Dürnstein heim nach Oberloiben gefahren und hatte sich zur Feier des Tages zwei Stamperln von ihrem heiß geliebten Marillenschnaps gegönnt. In den Tiefen ihrer Kühltruhe entdeckte sie eine große Portion Rostbraten mit Serviettenknödeln. Nach diesem ausgiebigen Mittagessen gönnte sie sich noch einmal zwei Stamperln. Zur Verdauung.

      Jetzt saß sie am Fenster ihres von den Eltern gemeinsam mit ihrem Bruder geerbten Hauses und blickte auf die Straße. Wenig los um diese Zeit. Kein Wunder bei der Affenhitze. Eigentlich wäre ja jetzt ein kleines Mittagsschläfchen ideal. Aber dafür spürte sie einfach eine zu große Rastlosigkeit in sich. Sie fand auch bald den Grund dafür. Ihr machte die Aufführung von ›Hanneles Himmelfahrt‹ große Sorgen. Sie hatte in den letzten Wochen neben dem Feilen an ihrem Regie-Konzept viel Energie darauf verwendet, die Medien für ihr Projekt zu interessieren. Aber weder Briefe an die Redaktionen noch Telefonate mit lokalen Journalisten, die sie aus ihrer Zeit als Gemeindesekretärin kannte, hatten bis jetzt ein brauchbares Resultat gebracht. Sogar den Propst von Herzogenburg hatte sie einzuschalten versucht. Aber der wollte sich auch nicht vor ihren Karren spannen lassen. Diese Damen und Herren Redakteure, die sich alle für weiß Gott wie bedeutend hielten, obwohl sie nur für Provinzblätter arbeiteten, waren halt alle das gleiche Pack. Mussten mit mehr oder weniger prickelnden Informationen gefüttert werden, bevor sie sich herbeiließen, über das wirklich Wahre und Schöne zu schreiben. Sie überlegte. Mit prickelnden Informationen, und wie man sich ihrer für eigene Zwecke bediente, kannte sie sich an sich aus. Allerdings bestand die einzige halbwegs prickelnde Information, die sie im Ärmel hatte, aus ihrer gestrigen Begegnung mit dem Chauffeur eines großen Wagens, den sie gestern um diese Zeit auf einer Fahrt nach Weißenkirchen am Rand der Wachaustraße bemerkt hatte. Laut Auskunft des Fahrers, den sie in ein Gespräch verwickelt hatte, war es der Dienstwagen des Landespolizeidirektors. Mehr war aus ihm nicht herauszukriegen. Aber so leicht abwimmeln ließ sich eine Josefa Machherndl nicht. Sie war ein Stück weitergeradelt und hatte sich hinter einem dicht belaubten Weinstock auf die Lauer gelegt. Sie hatte nicht lange warten müssen.

      Bald war der ihr aus dem Fernsehen bekannte hohe Herr aufgetaucht, und zwar nicht etwa vom Donauufer oder über den Radweg, sondern von oberhalb des Bahndamms kommend. Mit diesem unmöglichen dicken Kremser Polizisten im Schlepptau. Diese Information war nicht besonders prickelnd, solange sie nicht herausfinden konnte, was die beiden da oben in den Weingärten zu suchen hatten. Seit gestern hatte sie sich darüber den Kopf zerbrochen. Sie hielt sich ja immer auf dem Laufenden über alles, was in ihrer Gemeinde geschah. Sie kannte die Gegend wie ihre Westentasche. Wenn dort oben etwas vorgefallen wäre, das einen Landespolizeidirektor interessieren konnte, dann hätte sie das eigentlich wissen müssen. Das Einzige, was ihr einfiel, war, dass in diesen Weingärten erst vor ein paar Tagen ein Kremser Antiquitätenhändler verunglückt war. Aber was kümmerte das den obersten Polizisten des Landes? Zu blöd, dass sich der Chauffeur von ihrer Überredungskunst nicht hatte bezirzen lassen. Sie musste sich eingestehen, in den letzten Tagen vom Glück nicht gerade begünstigt gewesen zu sein. Aber sie wollte unter keinen Umständen Trübsal blasen. Das Glück würde schon noch zu ihr zurückkommen. Vielleicht war der Tod des Antiquitätenhändlers doch die richtige Fährte. Jedenfalls hatte ihr das Schicksal etwas in die Hände gespielt: einen wirklich guten Ansatzpunkt. Dieser Ansatzpunkt war übergewichtig und nicht der Hellste im Kopf. Sie musste Felix Frisch nur finden und in ein Gespräch verwickeln. Aus ihrer Zeit als Gemeindesekretärin von Dürnstein kannte sie in Krems genügend ältere Herrschaften, die zum Wohl ihrer Gemeinde die Augen offenhielten. Ein öffentliches Ärgernis wie dieser Inspektor stand sicher unter strenger Beobachtung. Sie griff zum Telefon. Es würde nicht so schwer sein, herauszufinden, wie sie an diesen unsäglichen Frisch herankommen konnte.

      Donnerstag, 23. Juni 16 Uhr 16

      Felix Frisch war bester Laune. Der gestrige gemeinsame Nachmittag