Der Todeswind der blauen Zipfel oder Die missliche Wahl der Miss Grafeneckart. Günter Huth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Huth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783429062729
Скачать книгу
Tatsache zu entnehmen, dass seine ansonsten immer sehr korrekt gebundene Krawatte auf halbmast hing.

      Der Vorsitzende der Links-Rechts Liberalen (LiReLi), Rochus Hirschruf, entgegen seiner stets und überall betonten liberalen Haltung mit einem traditionellen Trachtenanzug gekleidet, schob sein halbgefülltes Weizenbierglas ein Stück zur Tischmitte, dann erklärte er: „Hoch geschätzter Herr Oberbürgermeister, wenn ich das sagen darf, der Vorschlag, eine Miss Grafeneckart wählen zu lassen, erscheint uns, wenn ich das sagen darf, ebenso unsinnig wie sinnlos. Die Reduzierung einer jungen Frau auf ihr Äußeres ist, wenn ich das sagen darf, ebenso femininophob wie frauenfeindlich, um nicht zu sagen diskriminierend. Wir als geschichtsbewusste Liberale schlagen daher, wenn ich das sagen darf, eine Aktion vor, die der geschichtlichen Bedeutung des Grafeneckarts gerecht wird. Uns schwebt, wenn ich das sagen darf, ein Historienspiel vor, das den Sturm der Bauern aus dem Jahre 1525 auf die Festung Marienberg zum Inhalt hat. Die damaligen Ratskollegen haben seinerzeit einen heldenhaften Mut zur Liberalität gezeigt, der beispiellos war, wenn ich das so sagen darf. Eine Zivilcourage und Entscheidungsfreude, die wir heute bei vielen Stadtratskollegen schmerzlich vermissen. Wir haben daher bereits Kontakt zum Bayerischen Bauernverband aufgenommen, der, wenn ich das sagen darf, bereits Interesse signalisiert hat.“ Zufrieden mit sich und seiner Rede legte er seine Handflächen auf seinen markanten Bauch, der von einer Weste mit silbernen Knöpfen in Form gehalten wurde.

      „Also, das ist doch völliger Blödsinn! Wer soll denn so ein Theater finanzieren? Im Übrigen geht es doch nicht um den Bauernaufstand, sondern um den Grafeneckart selbst. Für die Fraktion der Klerikal Sozialistischen Partei erkläre ich, dass wir uns die Durchführung eines Mittelaltermarktes rund um das Rathaus vorstellen.“ Xaver Beutelschneider, Fraktionsvorsitzender der Partei und Kämmerer der Stadt, blickte Beifall heischend in die Runde. Jetzt, am späten Nachmittag, zeigte sich auf seinem rundlichen Gesicht bereits deutlich ein dunkler Bartschatten. Er kontrastierte mit seinem ansonsten kahl rasierten Kopf und verhinderte nur unvollkommen, dass sich dem Betrachter unwillkürlich Vergleiche mit einer Bowlingkugel aufdrängten. Als er in den Gesichtern seiner Kolleginnen und Kollegen nur mäßige Begeisterung erkennen konnte, ergänzte er: „Man könnte in diesem Zusammenhang auch etwas für den Gemeindesäckel tun, indem man beispielsweise gebührenpflichtiges Bungeejumping vom Turm des Grafeneckarts anbietet.“

      „Gute Idee! Und wer kratzt die Spinner dann unten vom Asphalt?“ Steinklopfer, Fraktionsvorsitzender der Freudigen Wähler, die den Vorschlag der Misswahl eingebracht hatten, pflegte gerne eine kernige Sprache, die insbesondere bei den anwesenden Damen nicht nur heute konsterniertes Kopfschütteln auslöste. Steinklopfer gab sich gerne männlich rustikal und bevorzugte Jeans, Shirts mit Aufdruck und Lederjacken in jedem Stadium der körperlichen Assimilation.

      „Mein lieber Sepp, man müsste natürlich unten ein Wasserbassin aufstellen. Das ist doch klar!“ Rainer Maria Bedenken-Träger von der Ökologisch Veganen Partei schüttelte über so viel Ignoranz deprimiert den Kopf. Er war froh, dass er vor der Sitzung einige Suppenlöffel Propolistinktur eingenommen hatte, die nicht zuletzt wegen ihrer hohen Alkoholkonzentration trotz der kontroversen Diskussion zu seinem ausgeglichenen Gemüt beitrug. Sein veganer Anzug aus einem japanischen Fairtradeunternehmen zeigte erste Sitzbeulen im Kniebereich. Was ihn aber in keiner Weise störte.

      Melinda Burgfried, die Chefin der mit einem Sitz im Stadtrat vertretenen Bürgerlichen Initiative Würzburg (BIWürg), nutzte eine Denkpause, um sich zu Wort zu melden: „Wir von der Bürgerlichen Initiative“ – wenn sie offiziell etwas äußerte, sprach sie grundsätzlich im Pluralis Majestatis – „sind der Auffassung, dass Wir keine Experimente eingehen sollten. Der Grafeneckart ist ein altehrwürdiges Gebäude, dem wir nicht mit derart modernem Firlefanz seine Würde nehmen dürfen. Wir schlagen daher vor, für eine gewisse Zeit den Vierröhrenbrunnen zu einem Weinbrunnen umzufunktionieren. Jeder Bürger kann sich dann mit seinem mitgebrachten Schoppenglas kostenlos bedienen!“

      Sie ließ die Lesebrille, die sie an einer Kette um den Hals trug, auf ihre matronenhafte Oberweite fallen und fixierte mit einer gewissen Strenge im Blick die Gesichter in der Runde in der Hoffnung auf positive Reaktionen. Ihr graues Tweedkostüm und die unverrückbar sitzende Hochfrisur vermittelten den Eindruck einer strengen Lehrerin, die ihrer Klasse das Leben erklären musste. Das Ergebnis ihrer Ausführungen war schlagartige Ruhe am Tisch. Sie war es gewohnt, dass man ihr Respekt entgegenbrachte.

      „Was ist denn das für eine blödsinnige Schnapsidee“, brummelte Steinklopfer halblaut in seinen nicht vorhandenen Bart, so dass es nur sein Nachbar Beutelschneider verstehen konnte. Laut erklärte er: „Liebe Frau Kollegin, erstens kann das keiner bezahlen und zweitens können wir dann im Rathaushof die Weinleichen stapeln. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich ein Winzer findet, der sich an einer derartigen Aktion beteiligen würde. Eine Misswahl ist der einzig sinnvolle Event, der sowohl von der Kostendeckung als auch vom Aufmerksamkeitsfaktor her alle gewünschten Parameter erfüllt.“

      Melinda Burgfried nötigte der Widerspruch ein heftiges Stirnrunzeln ab. „Lieber Kollege Steinklopfer, da müssten Wir aber sehr tief in uns gehen, um diesen chauvinistischen Vorschlag zu unterstützen.“

      „Platz genug wäre ja da“, nuschelte Steinklopfer erneut. Zum Glück ging seine Bemerkung in der heftigen Diskussion unter, die erneut unter den Volksvertretern ausbrach. Als die Stadträte kurz davor waren, sich, wie in südländischen Parlamenten nicht unüblich, körperlich in die Wolle zu kriegen, ertönte aus dem Hintergrund der Cafeteria die laute Stimme von Dieter Küchler, dem Wirt des Casinos. „So, meine Damen und Herren, wenn ich zu Tisch bitten dürfte, die Blauen Zipfel sind fertig!“

      Als hätte man einen Stecker aus der Stromdose gezogen, verstummten schlagartig alle Streitgespräche. Stühle wurden gerückt und die Räte wandelten flotten Schrittes in den Hauptraum des Casinos. An einer längeren Tafel war eingedeckt und die Herrschaften ließen sich nieder. Erwartungsvoll drehten sich die Gesichter der versammelten Räte in Richtung Küche. Da kam der Wirt auch schon mit einem stabilen Servierwagen angerollt. Auf dessen oberster Etage standen drei große Terrinen, aus denen es verheißungsvoll dampfte. Innerhalb weniger Augenblicke erfüllte eine Geruchsexplosion bestehend aus Wein, Lauch, Sellerie und Karotten den Raum und kitzelte die Nasen der Stadtparlamentarier. Der Wirt verteilte die Terrinen gleichmäßig auf der Tafel, so dass jeder gleichberechtigt zugreifen konnte. Sofort beugten sich sternförmig neugierige Gesichter über die Schüsseln.

      „Blaue Zipfel spezial, mit einem Sud aus Silvaner Spätlese, weißem Balsamicoessig, geschnittenem Lauch, Selleriestiften und Scheibchen feiner Karotten. Dazu noch ein paar Spezialzutaten, die für immer und ewig mein Geheimnis bleiben werden. Für jeden von Ihnen sind drei Paar Bratwürste vorgesehen, teilen Sie es sich also bitte ein. Brot ist reichlich vorhanden.“

      Die auf dem Servierwagen aufgestapelten großen Suppenteller wurden im Rahmen von fraktionsübergreifender Hilfeleistung verteilt, ebenso das Besteck.

      Rochus Hirschruf hob die Hand und forderte die Aufmerksamkeit des Wirtes. „Sie haben daran gedacht, dass ich gegen Essig im höchsten Maße allergisch bin?“

      „Aber selbstverständlich, Herr Stadtrat.“ Er nahm eine kleine Terrine vom Wagen und stellte sie vor Hirschruf ab. „In Ihrem Sud befindet sich ausschließlich ein sehr trockener Silvaner.“

      Hirschruf bedankte sich mit einem Nicken und angelte das erste Paar Würste aus der Terrine.

      „Haben Sie wieder die groben Bratwürste vom Lotterbach bezogen? Und hoffentlich mit dem üblichen Preisnachlass?“, wollte der Kämmerer wissen, während er sich ebenfalls ein großes Paar Bratwürste aus dem Sud fischte und mit einem Schöpfer reichlich Gemüse und Sud auf seinen Teller schaufelte.

      „Der Lotterbach hält für mich immer ein ausreichend großes Kontingent an Bratwürsten bereit, sodass für die Sitzungen des Rats immer bestens vorgesorgt ist.“

      „Und was ist mit mir?“ Rainer Maria Bedenken-Träger war natürlich militanter Veganer und musste sich schwer zusammenreißen,