Lebensgeschichtlich gesehen, haben ihnen die Eltern meist verboten, ihre Aggressionen zu äußern: Aggressionen sind nicht vom Guten oder gar „Sünde“; „Aggressionen zeigt man nicht, weil sie zerstören und zum Streit führen“; „Aggressionen sind in sich schlecht und schädlich“.
Unterdrückte Aggressionen wirken sich auch körperlich aus: „Entweder man nimmt ein leises Zittern wahr, eine mühsam zurückgehaltene Wut, das nervöse Flattern, die zusammengebissenen Zähne, die hinter Überfreundlichkeit versteckte Wut, die Kälte in der Stimme …; da kocht einer vor Wut, aber der Deckel ist fest zugeschraubt. Oder man bemerkt eine merkwürdige Lahmheit, Blassheit, Unlebendigkeit, Erschöpfung, Müdigkeit, Ausgelaugtheit, Traurigkeit, Starrheit“ oder Lähmung. Damit einher geht häufig ein introvertiertes Verhalten und eine depressive Grundstimmung (Lambert, 14 ff.).
Solche Menschen sind mit einem Autofahrer zu vergleichen, der in seinem Wagen sitzt, Vollgas gibt und gleichzeitig die Fuß- und Handbremse betätigt. Die Lautstärke des Motors lässt die großen Kräfte und Gegenkräfte ahnen, die im Auto wirksam sind. Allerdings verpuffen die meisten Energien, da sie nicht in Bewegung umgesetzt werden. Das Auto und der Fahrer bleiben bei allem Energieaufwand unbeweglich. Das Ganze endet in Erschöpfung, Kraftlosigkeit und Stillstand.
3.3. | Lebensfördernde (konstruktive) Aggressionen |
Die lebens- und beziehungsfördernden Aggressionen wirken als kreative, aufbauende und gestaltende Kräfte, die Leben und Beziehung anstiften und letztlich auf Liebe ausgerichtet sind, die wiederum neue Energien freisetzt. Erfüllt von dieser Lebensund Liebesenergie vermögen Menschen ihre Kräfte für sich selbst und für andere einzusetzen. Sie sind entscheidungsfreudig, gehen Konflikten nicht aus dem Wege, sagen ihre Meinung und sind doch einfühlsam und anpassungsfähig. Sie besitzen ein gesundes Selbstbewusstsein und kennen ihre lebensfördernden und zerstörerischen Anteile, und sie sind in der Lage, damit umzugehen. Sie haben sich mit ihrer eigenen Lebens- und Glaubensgeschichte auseinandergesetzt und haben ihre negativen Elternbotschaften in eigene, positive Leitsätze umgeschrieben, die ihnen helfen, ihre Aggressionen lebensfördernd einzusetzen. Sie sehen ihr Leben in Beziehung und sind geprägt von einem Glauben, der über das Irdische hinausweist. Aus dem „Prinzip Hoffnung“ lebend, lehnen sie einen lähmenden Pessimismus ebenso ab wie einen blinden Optimismus.
Sie haben gelernt, in kleinen Schritten auch die Zwischentöne der lebens- und beziehungsfördernden Aggressionen zu sehen und zu leben, z. B. in persönlichen Beziehungen, in Freundschaften, in der Ehe, in der Beziehung zur Umwelt und in der Beziehung zu Gott.
Ein Mensch, der seine Aggressionen so konstruktiv einsetzt, gleicht einem Autofahrer, der ein umweltfreundliches Auto fährt, der seinen Wagen gut kennt und ihn pflegt. Er setzt die PS-Energien seines Autos ein, um Neues zu entdecken, sich frei zu bewegen, und er steuert bestimmte Ziele an. Er lädt Menschen zu gemeinsamen Reisen ein und bildet Fahrgemeinschaften. Er nutzt den Wagen, um Waren zu transportieren. Auf seinen Fahrten ist er aufmerksam und passt sein Tempo den Gegebenheiten an, wie z. B. Steigungen, Abfahrten, Kurven, Signalen, Schildern und eventuell auftauchenden Hindernissen.
So steht er weder unter „Überdruck“, den er auf das Gaspedal überträgt und dadurch wertvolle Energien vergeudet. Noch fährt er mit „Unterdruck“, den er in ein langsames Dahinschleichen umsetzt. Sein Autofahren ist angemessen und stimmig, wenn er die freigesetzten Energien situationsgerecht und verantwortlich für sich selbst, die anderen und für die Umwelt und ihre Zukunft einsetzt.
4. | Was ist Beziehung? |
4.1. | Definition |
Ganz allgemein ist Beziehung eine Verbindung, ein Verhältnis zwischen zwei Subjekten, die sich in unterschiedlichen Kommunikationsformen äußern können. Hier geht es vor allem um zwischenmenschliche Beziehungen, die konstitutiv für das Leben des Menschen als soziales Wesen sind. In unserer von Individualismus und Selbstverwirklichung geprägten Zeit wird das Wort „Beziehung“ eher statisch verstanden und lässt die vormals mitgemeinte, dynamische Dimension des „Aufeinander-Beziehens“ mehr in den Hintergrund treten.
Die humanistische Psychologie betont, dass die Entwicklung der Persönlichkeit und das Entstehen von Wertgefühlen nicht zuletzt durch die Begegnung mit anderen geschehen. Rogers z. B. nennt Echtheit, einfühlendes Verstehen und emotionale Wertschätzung als Bedingungen, damit eine Beziehung gelingt. Im Kapitel über Beziehungsstörungen werden wir sehen, wie sehr eine Beziehung von der Dynamik der aufeinander gerichteten Lebensenergien lebt und von einem ausgewogenen Verhältnis von Nähe und Distanz abhängt.
Die christliche Anthropologie betont, dass der „Mensch daraufhin angelegt ist, mit Gott und in ihm die Fülle und Vollendung des Lebens zu finden und zu teilen“. Das tiefste Wesen des Menschen ist also „relativ“ (Greshake, 34), d. h. er steht trotz aller Eigenständigkeit als freies Geschöpf letztlich nicht in sich, sondern er ist und verwirklicht sich in der Beziehung zu Gott und seinen Mitmenschen. Augustinus drückt diese Einsicht treffend aus: „Du hast uns auf Dich hin erschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.“
Dieses Grundverständnis von Beziehung findet sich heute in der Beziehungstheologie und Beziehungsethik wieder (Pompey 1986, 179 ff.). Der christliche Gott unterscheidet sich von den monotheistischen Vorstellungen dadurch, dass seine letzte Seins-Wirklichkeit in der trinitarischen Beziehung besteht. Es ist eine liebende Beziehung zwischen den drei „Personen“ Vater, Sohn und Geist (1 Joh 4,8), in der alles Heil und jede Erlösung in dieser Welt ihren Ursprung hat. Durch die Erschaffung der Welt und insbesondere des Menschen schafft Gott sich ein „Gegenüber“ und eröffnet somit eine weitere Beziehungsmöglichkeit. Auch den Menschen erschafft Gott als ein Beziehungswesen, das ihm und seiner Beziehungsmöglichkeit ähnlich ist, wie es im ersten Schöpfungsbericht der Bibel beschrieben wird: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,27).
Der Mensch ist also auch in seiner Beziehungsfähigkeit Gott ähnlich. Doch der Mensch ist auch frei, dieses Potential anzunehmen und lebensfördernd oder -zerstörend einzusetzen. Da das Wesen dieser Beziehungswirklichkeit des Menschen in Analogie zur innertrinitarischen Beziehung Gottes die Liebe ist, setzt sie Freiheit voraus, „d. h. die Verweigerung der Beziehung, das Nein, muss potentiell immer auch möglich sein, damit das Ja ein echtes Ja ist“ (Pompey 1986, 196). Eine erzwungene Beziehung ist keine liebende Beziehung. Die liebende Beziehung Gottes und des Nächsten ist ohne freie Zustimmung nicht möglich.
Wie die Offenbarungsgeschichte berichtet, misstraute der Mensch seinem Partner Gott, konnte die Liebe zu Gott nicht durchhalten, nicht glauben, dass Gott ihm alle guten Lebensmöglichkeiten der Beziehung zu sich, zum Nächsten, zur Schöpfung bot. „Die Menschen wollten selber erkennen – im Sinne von erfahren und erleben –, was gut und böse für sie ist, und glaubten, Gott hätte ihnen etwas vorenthalten (Gen 3,1–24). Die Folgen dieser Beziehungsstörung zu Gott waren die Beziehungsstörung des Menschen zu sich, zum Nächsten und zur Schöpfung. An dieser Urtat der Menschen wie an den Folgen dieser Urtat haben alle Anteil (Un-Heils-Zusammenhang)“ (Pompey 1986, 196). In der Ablehnung der Beziehung zu Gott und zur eigenen gottähnlichen Beziehungsfähigkeit wurzelt die Sünde, die Schuld und Un-Heil mit sich bringt. Diese fundamentale Beziehungsstörung zu Gott wirkt sich bis heute aus in Feindschaft und Hass, wo Menschen ihre aggressiven Lebensenergien nicht beziehungsstiftend, sondern zerstörend einsetzen, indem sie sich bekämpfen, verletzen und töten.
Trotz dieser existentiellen Beziehungsstörung zwischen Gott und Mensch infolge des Ungehorsams (Gen 3,1 ff.), in dem der Mensch selbstherrlich über seine Lebensenergien entscheidet, blieb Gott dieser Beziehung treu. Er kommt den Menschen in seiner vergebenden Liebe immer wieder neu entgegen. Ihre Krönung findet diese Liebesbeziehung Gottes zu den Menschen und der Schöpfung in der Menschwerdung und in der Erlösung durch Jesus Christus, in dem uns Gott als Mensch konkret erfahrbar wird: „Um die Menschen in den Wurzeln der Beziehungsstörung zu heilen, nimmt er Menschennatur an, wird den Menschen gleich mit Ausnahme der Sünde, d. h. der Beziehungsstörung zu Gott (Hebr 4,15; 2 Kor 5,21; Phil 2,6 ff.). Durch die Menschwerdung – einschließlich aller Beziehungsleiden