Als die Wunde freigelegt war, erkannte er sofort den offenen Bruch. Beide Knochen des Unterarms waren kurz hinter dem Handgelenk abgeknickt. Einer stand spitz aus dem Fleisch. Die Wunde blutete nur noch schwach. Bartholomäus hatte schon häufiger derartige Verletzungen behandelt.
„Wird mein Mann seine Hand verlieren?“ Die Stimme der Frau zitterte.
Der Scharfrichter gab keine Antwort. Stattdessen stellte er die Laterne näher, so dass er besser sehen konnte. Vorsichtig tastete er den Bruch ab. Der Verletzte stieß ein gepresstes Stöhnen aus.
„Ich denke, man kann die Hand erhalten. Dazu muss ich aber den Bruch richten, damit die Knochen wieder zusammenwachsen können. Das wird sehr schmerzhaft werden.“
„Tut bitte, was Ihr könnt“, flehte die Frau. „Wir haben fünf Kinder und mein Mann muss arbeiten, damit wir leben können.“
Bartholomäus nickte, dann drehte er sich um, nahm den Leuchter vom Tisch und ging ins Schlafzimmer. Er rüttelte seine schlafende Frau unsanft an der Schulter. „Frau, steh auf, ich brauche deine Hilfe.“
Es dauerte einen Moment, ehe Waltrud aus dem Tiefschlaf in die Gegenwart zurückfand.
„Was ist?“, fragte sie mit belegter Stimme.
„Du musst mir helfen, einen Bruch zu richten. Der Knochen hat die Haut durchbohrt.“
„Ich komme“, murmelte sie und schob sich unter der Bettdecke hervor.
„Beeil dich!“, erwiderte Bartholomäus. „Wir brauchen den betäubenden Tee aus dem Kräuterbuch und deine Wundsalbe.“
Waltrud wusste, was er meinte. Schon seit Jahren hatte sie sich mit der Herstellung schmerzlindernder und heilender Salben beschäftigt, die ihr Mann in den Fällen einsetzte, in denen er einen Angeklagten zwar körperlich strafen musste, der Betroffene aber an den Folgen nicht sterben sollte. Ihre Kenntnisse hatte sie dank der Aufzeichnungen, die Bartholomäus aus dem Haus der verbrannten Hexe mitgebracht hatte, deutlich erweitern können. Hierzu gehörte auch die Herstellung des Betäubungstees.
Waltrud nickte den beiden Besuchern kurz zu, dann schürte sie das Feuer an. Während die beiden ängstlich und schweigend auf ihren Stühlen saßen und mit großen Augen die Vorbereitungen verfolgten, ergriff sie einen kleinen Kessel, schöpfte am Brunnen eine geringe Menge Wasser und hängte ihn über die Flammen. Aus einem Regal nahm sie den Topf mit der Heilsalbe und stellte ihn bereit. Währenddessen richtete ihr Mann ein kleines scharfes Messer, Binden und Stöcke her, um den Bruch nach dem Richten schienen zu können.
Sobald das Wasser kochte, hob Waltrud den Kessel vom Feuer, stellte ihn auf einen Stein und gab die abgemessene Menge eines Pulvers und verschiedene Kräuter ins Wasser. Dieser Trunk nach dem Rezept der Hexe war eine Mischung aus getrocknetem Maulbeersaft, Mohnextrakt, Bilsenkraut und Schierling. Dazu gab sie eine geringe Prise getrockneter Alraunwurzel. Diese Mischung hatte eine betäubende Wirkung und würde dem Patienten den Schmerz der Operation erträglicher machen.
Nach einigen Minuten war das Gebräu zubereitet. Mit Hilfe einer Schöpfkelle tränkte sie ein Tuch mit dem Sud, dann ging sie zu dem Verletzten und hielt es ihm unter die Nase.
„Atme das ein, dann wirst du einschlafen und den Schmerz nicht spüren!“
Zögernd folgte der Mann ihrer Anweisung. Nach einigen Minuten sank sein Kopf zur Seite. Die Dämpfe der Mischung hatten ihre betäubende Wirkung entwickelt. Waltrud gab ihrem Mann ein Zeichen.
„Du, Weib, umfass den Oberkörper deines Mannes, damit er nicht vom Stuhl rutscht, und du, Frau, hältst den verletzten Arm. Es muss jetzt schnell gehen!“
Die beiden Frauen befolgten seine Anweisungen. Bartholomäus hob das kleine Messer und erweiterte mit einem kurzen Schnitt die offene Wunde. Sofort floss das Blut wieder stärker. Dann ergriff er die Hand des Steinmetzes und zog den Bruch mit einer flüssigen Bewegung gerade. Seine Frau hielt dagegen. Trotz der Betäubung stöhnte der Mann laut vor Schmerz, wachte aber nicht auf. Mit dem Daumen drückte Bartholomäus den herausstehenden Knochen in den Arm zurück, wobei er darauf achtete, dass die beiden Teile wieder zueinanderfanden.
Behutsam strich seine Frau jetzt von der blutstillenden Heilsalbe auf die Wunde und umwickelte sie mit einem schmalen Leinenstreifen. Um den Bruch ruhigzustellen, legte der Scharfrichter nun die Schienen an und fixierte sie mit Binden.
„Du musst einmal in der Woche hierherkommen, damit ich den Verband und die Schienen erneuern kann“, erklärte Bartholomäus der Frau. „Dein Mann darf zwischenzeitlich mit der Hand nicht arbeiten. Zwei Monate, dann kann er sie wieder benutzen.“
Waltrud öffnete ein Fläschchen mit hochkonzentriertem Essig und hielt sie dem Betäubten unter die Nase. Einen Augenblick später begannen seine Augenlider zu flackern. Langsam kam er zu sich.
Nachdem der Mann wieder voll bei Sinnen war, bedankten sich die beiden bei dem Henkerehepaar. Die Frau des Steinmetzes legte zwei Gulden auf den Tisch und sie verließen das Anwesen. Morgen, bei Tage, wenn sie dem Scharfrichter oder seiner Frau in der Stadt über den Weg laufen würden, würden sie die Straßenseite wechseln.
Bartholomäus und seine Frau wuschen sich die Hände am Brunnen, dann legte sich Waltrud wieder ins Bett. Bartholomäus schloss noch die Truhe, dann suchte er ebenfalls das Lager auf. Für morgen hatte der Inquisitor des Fürstbischofs die peinliche Befragung zweier der Hexerei beschuldigter Frauen angeordnet. Diese anstrengende Arbeit verlangte einen ausgeruhten Henker.
Am 16. Juli 1631 starb Philipp Adolf von Ehrenberg auf der Feste Marienberg. Am 7. August wählte das Domkapitel von Würzburg Franz von Hatzfeld als seinen Nachfolger. Am 18. Oktober desselben Jahres fielen die Schweden unter Gustav Adolf in Würzburg ein und eroberten die Festung auf dem Marienberg. Zu diesem Zeitpunkt war der Fürstbischof bereits nach Köln geflüchtet.
Als die Schweden herannahten, flüchteten Würzburger Bürger, darunter auch der Scharfrichter Bartholomäus mit Familie, auf die als uneinnehmbar geltende Burg. Es war ihm gelungen, auf dem Henkerswagen einen Teil seiner Habe, darunter auch die Truhe mit den Aufzeichnungen der Hexe, in Sicherheit zu bringen.
Die Verteidiger der Festung unternahmen mehrmals Ausfälle gegen die Belagerer. Hierfür nutzten sie Tore, die in den äußeren Befestigungsring eingebaut waren. In den zahlreichen unterirdischen Gängen sammelten sich die Kämpfer und stürzten sich überraschend auf die Belagerer, um sie zurückzudrängen. Alle wehrhaften Männer der Burg beteiligten sich bei diesen Angriffen, auch Bartholomäus. Bei einem dieser Ausfälle geriet er in Gefangenschaft. Ein Denunziant verriet seine Identität an die Schweden. Da man ihm vorwarf, zahlreiche angeblich mit dem Teufel im Bunde stehende Lutheraner hingerichtet zu haben, wurde er vom schwedischen Obristen kurzerhand zum Tode verurteilt. Noch in der gleichen Stunde schlug ihm ein schwedischer Soldat den Kopf ab.
Nachdem die Festung gefallen war, vertrieb man viele Menschen, die dort Zuflucht gefunden hatten, ohne Hab und Gut. Dieses Schicksal erfuhr auch die Familie des Scharfrichters. Ihre Spuren verwehten mit dem Staub der Geschichte.
Die Aufzeichnungen der alten Kräuterhexe landeten auf Umwegen bei einem Mönch, der in der Bibliothek des Fürstbischofs beschäftigt war. Da er sie für aufbewahrenswert befand, stellte er sie in ein Regal zu anderen Kräuterbüchern, wo sie unbeachtet verstaubten.
* Inschrift eines Richtschwertes im Scharfrichtermuseum Pottenstein, Bayern
* Historisch belegt.
IM SOMMERLICHEN WÜRZBURG
Hinter Xaver Marschmann schloss sich langsam die automatische Eingangstür zum Bau D8 der Universitätsklinik Würzburg, in dem die Hautklinik untergebracht war. Marschmann atmete befreit die frühsommerliche Brise ein. Seit er hier vor vier Jahren an einem bösartigen Hauttumor operiert worden war, unterzog er sich vierteljährlich einer Nachsorgeuntersuchung. Jedes Mal folgte