„Setz dich nieder und iss!“, sagte sie knapp. „Du bist bestimmt hungrig.“
Das blutige Handwerk ihres Mannes war für sie nichts Besonderes. Sie war die Tochter des Scharfrichters von Schweinfurt und von Kindesbeinen an mit diesem Beruf vertraut. Die Nachkommen von Henkern konnten wegen der Unehrenhaftigkeit ihres Amtes nur innerhalb ihres Standes heiraten. Dieser Beruf wurde in der Regel auch vom Vater an den Sohn weitergegeben. Aus diesem Grunde hatten sich in vielen Regionen regelrechte Henkersdynastien entwickelt.
„Ich muss mich zuerst um mein Schwert kümmern“, gab Bartholomäus brummig zurück. Bei der Pflege seines Handwerkszeugs war er äußerst gewissenhaft, hing doch von der Schärfe des Schwertes die saubere Ausführung einer Hinrichtung ab.
Er ging in den Hof, wo ein steinerner Wassertrog stand, an dessen Schmalseite eine Handpumpe angebracht war. Mit einer vielfach geübten Bewegung zog er das Schwert aus der Scheide und hielt es mit der Rechten unter den Wasserstrahl. Mit der anderen Hand pumpte er. Obwohl er die Klinge abgewischt gewischt hatte, färbte sich das Wasser rot. Sorgfältig reinigte er das Schwert, wobei er es genau auf Scharten untersuchte. Doch die hochwertige Klinge, die der Rat der Stadt vor Jahren bei einem Solinger Waffenschmied hatte herstellen lassen, war unversehrt. Anders als ein Kriegsschwert war dieses Schwert an der Spitze abgerundet und stumpf.
Der Griff des Schwertes war so beschaffen, dass es beidhändig geführt werden konnte. Mit Leder umwickelt, lag es rutschfest und sicher in den Händen. Unter der Parierstange aus Messing befanden sich in der Klinge drei Löcher sowie ein Galgenmotiv und der Spruch: „Wenn ich das Schwert aufheben tu, wünsch ich dem Sünder ewige Ruh“.*
Bartholomäus trocknete das Schwert gründlich ab und fettete die Klinge mit einem Stück Fettschwarte dick ein, damit sie keinen Rost ansetzte. Schärfen würde er sie erst wieder vor dem nächsten Einsatz. Als er fertig war, ging er ins Haus zurück und stellte das Richtschwert in einen Wandständer gegenüber dem Eingang, so dass jeder, der sein Haus betrat, dieses Symbol der Gerechtigkeit gut sehen konnte. Anschließend setzte er sich an den Tisch und aß mit großem Appetit den Eintopf, den seine Frau gekocht hatte.
Bartholomäus stammte ursprünglich nicht aus einer Henkersdynastie; er selbst hatte eine begründet. Im Alter von neun Jahren hatten Gesetzlose seine Eltern überfallen und sie und seine beiden Brüder getötet. Bartholomäus war verletzt und bewusstlos liegengeblieben. Die Mörder hatten ihn für tot gehalten. Wenig später war er von Wandermönchen gefunden und mit in das nächstgelegene Zisterzienserkloster genommen worden. Sie hatten ihn gesund gepflegt und ihn in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Dort hatte er Schreiben und Rechnen gelernt und später eine Ausbildung als Schreiner erhalten.
Mit sechzehn Jahren hatte ihn ein neuerlicher Schicksalsschlag getroffen, der sein gesamtes weiteres Leben verändern sollte. Das Kloster war zwischen die Fronten einer Fehde zweier Landesfürsten geraten und ein Raub der Flammen geworden.
Der wieder heimatlos gewordene junge Bartholomäus war nach zwei Wanderjahren, in denen er sich mit Hilfe von Gelegenheitsarbeiten als Schreiner über Wasser gehalten hatte, nach Schweinfurt gekommen und vom dortigen Scharfrichter als Knecht eingestellt worden. Dieser lehrte ihn das Henkershandwerk. Mit achtzehn Jahren hatte Bartholomäus die Meisterprüfung abgelegt, die aus der Durchführung von drei Hinrichtungen bestand. Drei Jahre später hatte der Rat der Stadt Würzburg einen Scharfrichter gesucht. Um dieses Amt hatte er sich beworben. Nachdem Bartholomäus sein Können bei einer Hinrichtung unter Beweis gestellt hatte, durfte er die Stelle antreten.
Man schrieb das Jahr 1618 und Johann Gottfried von Aschhausen war Fürstbischof von Würzburg. Da er mit großem Nachdruck das grassierende Hexenunwesen in der Bischofsstadt bekämpfte, hatte Bartholomäus reichlich zu tun und war dadurch schnell zu bescheidenem Wohlstand gekommen. Jede peinliche Befragung und jede Hinrichtung wurde honoriert. Seine finanzielle Situation hatte es ihm ermöglicht, um die Hand von Waltrud anzuhalten, die er während seiner Lehre kennengelernt hatte. Sie heirateten und ein knappes Jahr später war sein erster Sohn geboren worden.
Die Knechte kehrten am späten Nachmittag vom Sanderrasen zurück und meldeten die ordnungsgemäße Verbrennung der Hingerichteten. Als es im Hof so dämmerig wurde, dass sie nicht mehr arbeiten konnten, trafen sie sich in der Küche. Dort nahmen sie gemeinsam bei Kerzenschein das Abendessen ein. Danach zogen sich die Knechte in den Anbau neben dem Pferdestall zurück. In abgetrennten Verschlägen lagen ihre Schlafstellen. Sie arbeiteten gerne für Bartholomäus, denn er zahlte nicht schlecht und war ein verträglicher Meister.
Waltrud wusch im Kessel das Geschirr ab, dann legte sie sich in der gemeinsamen Schlafkammer zur Ruhe. Bartholomäus stellte den Kerzenleuchter auf den Tisch, ging zu einer Truhe und holte einen kleinen Stapel Blätter heraus. Diese waren zwischen zwei Lederdeckel gepresst und wurden mit einem Riemen zusammengehalten. Vorsichtig öffnete er das Bündel und schlug die Stelle auf, wo er zuletzt gelesen hatte. Die dreiundfünfzig Blätter waren mit einer zierlichen Handschrift beschrieben. Bartholomäus hatte diese Aufzeichnungen im Haus einer wegen Hexerei hingerichteten alten Frau gefunden, die eine Kräuterkundige gewesen war und ihr Können angeblich zum Schaden ihrer Nachbarn in den Dienst des Teufels gestellt hatte. Bartholomäus faszinierte die Wirkung der vielen Kräuter, die hier in allen Einzelheiten aufgeschrieben waren, einschließlich der Krankheiten, gegen die sie wirkten, und die erforderlichen Dosen, in denen sie eingesetzt werden konnten. Seine Frau beschäftigte sich auch mit Kräuterkunde, hatte aber niemals dieses Wissen erreicht. Die Rezepte der Alten waren ihr von großem Nutzen.
Er hatte noch keine halbe Seite gelesen, als draußen der Hund anschlug. Tagsüber lag der Rüde an der Kette, in der Nacht lief er allerdings frei im Hof herum. Als der Hund sich gar nicht beruhigen wollte, legte Bartholomäus die Aufzeichnungen in die Truhe zurück, zündete mit Hilfe des Leuchters die Kerze einer Laterne an und trat vor das Haus.
„Wer ist da?“, rief er laut, nachdem er den Rüden mit einem scharfen Befehl zum Schweigen gebracht hatte.
„Meister Bartholomäus, wir müssen Ihre Hilfe in Anspruch nehmen“, kam eine dünne weibliche Stimme über das Tor. Das Grundstück war mit einem geschlossenen Holzzaun umgeben, so dass er nicht sehen konnte, wer ihn zu so später Stunde aufsuchte.
„Ich komme!“, erwiderte der Scharfrichter, packte den Hund am breiten Lederhalsband und legte ihn an die Kette. Dann eilte er zum Tor und öffnete. Im Schein seiner Laterne erkannte er eine Frau, die einen Mann stützte, dessen linke Hand von einem blutdurchtränkten Verband umhüllt war.
„Kommt herein“, sagte Bartholomäus und trat zur Seite. Das Knurren des Hundes unterband er mit einem knappen Zuruf.
Es war kein außergewöhnliches Ereignis, dass ihn zu später Stunde, wenn die Dunkelheit die Identität der Menschen verbarg, Kranke aufsuchten, um seine medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hierbei handelte es sich überwiegend um einfache Bürger, die sich einen Arzt nicht leisten konnten. Durch seine Tätigkeit als Scharfrichter und Folterer hatte sich Bartholomäus einige Kenntnisse über die Beschaffenheit des menschlichen Körpers angeeignet, so dass er in der Lage war, kleinere chirurgische Eingriffe vorzunehmen.*
Es war den beiden Besuchern anzusehen, wie unwohl sie sich im Haus des Henkers fühlten. Das Jammern des Mannes verstummte, als er im Lichtschein das Richtschwert erblickte.
„Was ist passiert?“, fragte Bartholomäus ruhig.
„Mein Mann arbeitet oben auf der Burg als Steinmetz“, erklärte die Frau. Sie war mittleren Alters und ziemlich mager. Ihr Gesicht lag im Schatten eines tief hereingezogenen Kopftuchs. „Heute, beim Richten eines großen Steines, ist dieser abgerutscht und hat seinen linken Unterarm getroffen. Er ist völlig durchgebrochen.“
„Setzt euch!“, sagte Bartholomäus bestimmt und wies auf die Stühle am Tisch. Schnell räumte