Marlena folgte ihr unauffällig. Ihre hohen Schuhe hatte sie vorhin gegen Sneakers eingetauscht und dazu George Michaels »Freedom« gesummt. Nach ein paar Metern tat die Schwarzhaarige es ihr gleich, schlüpfte in flache Gesundheitstreter. Mit dem Schuhwechsel sackte sie in sich zusammen, zog frierend eine schwarze Strickjacke über die Schultern und näherte sich einer Haltestelle. Als der Bus kam, stieg Marlena hinten ein, die Frau ganz vorne.
Zehn Minuten später verließ sie ihn wieder, mitten im ehemaligen Arbeiterbezirk Zizkov, der sich in den letzten Jahren immer mehr zum Künstlerviertel gemausert hatte und – aus der Ferne betrachtet – fast ein wenig so aussah wie Paris.
Langsam ging die junge Frau die Slavíkova-Straße entlang. Vor einer Bar stand ein Pulk junger Menschen mit Getränken. Durch die großen vergitterten Fenster fiel buntes Licht, Musik wummerte. Das »Big Lebowski« war eines von Marlenas Lieblingslokalen, wenn sie in der Stadt war.
Die Schwarzhaarige drängelte sich wortlos vorbei und bog kurz darauf in eine schmale Seitengasse ein. Mit einem Mal war die Schickeria verschwunden und hatte einem dunklen Durchgang Platz gemacht, in dem es nach Urin und Erbrochenem stank. Nach ein paar Metern begann die junge Frau in ihrer Handtasche zu kramen und blieb schließlich vor einer abgeschabten Eingangstür stehen.
»Entschuldigen Sie bitte!«, rief Marlena leise, um sie nicht zu erschrecken.
Die Frau fuhr herum, ein Klappmesser in der Hand. Hastig wich Marlena zurück.
»Hau ab, aber schnell!«, sagte die Verfolgte böse. »Lass mich in Ruhe, šlapka!«
Na, die Nutte bist ja wohl eher du, dachte Marlena, ohne beleidigt zu sein.
»Bitte, ich will Ihnen nichts tun, nur ein paar Fragen stellen! Es wird nicht lange dauern, versprochen!«
Die Augen der jungen Frau blieben misstrauisch. »Dir helfen? Wozu?«
Marlena kam näher. »Ich suche jemanden und habe schon alles probiert. Sie sind meine letzte Hoffnung!«, übertrieb sie.
»Warum ich?« Ihre Neugierde schien geweckt zu sein.
»Bitte, darf ich Sie zu einem Getränk ins ›Big Lebowski‹ einladen? Dann erzähle ich Ihnen alles!«
Die junge Frau verzog das Gesicht. »Ich bin müde. Verzieh dich!« Sie wandte sich ab, machte Anstalten, die verkratzte Tür aufzusperren.
»Ich bin gerne bereit, für Ihre Informationen zu bezahlen!« Marlena hatte mit Widerstand gerechnet und war vorbereitet. Schlagartig hatte sie die Aufmerksamkeit der Schwarzhaarigen wieder.
»Bezahlen? Wie viel?«
»500 Kronen und das Getränk!«
Jetzt kam das Verhandlungsgeschick der jungen Frau durch.
»1500!«
»Tausend. Keine Krone mehr!«
Die dunklen Augen der Frau blitzten auf. Ein netter Extrahappen nach dem langen Tag. »Also gut, gehen wir, aber nur kurz.«
15 Minuten später stand Marlena wieder auf der Straße und ließ das Gespräch Revue passieren.
Sie hatten sich an einen Ecktisch gequetscht. Tereza, so der Name der Prostituierten, hatte Marlena sofort wiedererkannt, aber nur die Schultern gezuckt und müde an ihrem Bier genippt, woraufhin Marlena mit der Tür ins Haus gefallen war. »Dir sagt doch der Name Jana Jelinek etwas, oder?«
»Jana? Aber die ist doch schon seit Jahren tot! Bist du von der Polizei?«
»Blödsinn, ich arbeite privat! Aber ihr wart sozusagen Kolleginnen im selben Hotel, und ich hoffe, du weißt, ob sie Verwandte hatte. Es geht um ein Erbe.«
Tereza hatte mit einem Schnauben reagiert. »Ich kannte sie wirklich nicht sehr gut. Sie hat, so wie ich, allein angeschafft. Keine Zuhälter. Wir bestechen die Leute am Empfang und sie lassen die Bullen außen vor. Ist sicherer als auf der Straße und die Kunden sind besser. Mittlerweile habe ich viele, die immer wiederkommen.«
Es gab unter Garantie genügend Geschäftsreisende und Touristen, die auf diesen Typ standen: klein, jung, üppig, professionell, mit großem Busen, gefärbten Haaren, aufgeklebten Fingernägeln und dichten Wimpern.
»Hattest du Zweifel, dass es ein Unfall war?«
»Nein, gar nicht. Unfall mit Todesfolge, hieß es.«
»Weißt du denn jetzt, ob Jana Familie hatte?«
»Ja, eine Schwester, ganz sicher«, war genau die Antwort gekommen, auf die Marlena gehofft hatte. »Jelena hieß sie, glaube ich. Die stammten alle aus der Gegend um Krumau. Von dort ist Jana aber weg. Keine Ahnung, wo sie hier in Prag gelebt hat und ob die Schwester noch dort ist. Du wirst wohl hinfahren müssen. Ach ja, ich glaube, sie ist Krankenschwester, wenn dir das hilft!«
Danach war Tereza aufgesprungen. »Genug jetzt, ich verschwinde. Die Nachbarin kann nicht länger auf meine kleine Tochter aufpassen und ich muss für meinen Schulabschluss lernen, damit es bald besser wird!« Die Hoffnung hinter diesen Sätzen war nicht zu überhören gewesen.
Seufzend hatte Marlena ihr das Geld in die Hand gedrückt und die Rechnung bezahlt.
Krumau, das tschechische Česky Krumlov, lag etwa 25 Kilometer nördlich der österreichischen Grenze in Südböhmen an einer Flussschleife. Wegen seiner Lage trug es den Beinamen »Venedig an der Moldau«. Die malerische Altstadt beherbergte viele Lokale und Galerien und über allem prangte das mächtige Schloss, das angeblich genau 365 Räume besaß und UNESCO Weltkulturerbe war.
Marlena kam am späten Vormittag an. Seltsamerweise war sie in ihrem Leben schon in Australien, Bolivien oder Kambodscha gewesen, aber noch nie hier. Sofort war sie bezaubert vom Charme der alten Häuser und Gassen. Sie ließ ihr Auto auf einem der großen Parkplätze stehen, denn sie wollte die Gelegenheit nutzen, die Stadt zu Fuß zu erkunden.
Soeben war sie auf den Hauptplatz, den Námestí Svornosti, eingebogen und hielt erstaunt inne. Sie stand vor einer Flut grellbunter Yogamatten, auf denen sich Dutzende Menschen verrenkten. Japanische Touristen fotografierten in hellem Entzücken jede Pose, während einige rotwangige Schirmkäppi-Träger in kurzen Hosen mit Bier auf die Show anstießen. Der Anblick war so bizarr, dass ihr ein »Das gibt’s doch nicht!« entfuhr.
»Diese Vollidioten!«, lamentierte ein verbraucht wirkender Tscheche, der vor einem Laden mit alten Blechschildern stand und fassungslos den Kopf schüttelte. »Wir verkommen immer mehr zu einem Irrenhaus. Die UNESCO schützt die Gebäude, aber wer schützt uns?«
Marlena sah sich um und musterte die bunte Ansammlung von Souvenirläden, Bierlokalen und Menschenmassen. Sie hatte sich auf der Fahrt schlaugemacht und ungläubig gelesen, dass fast zwei Millionen Touristen aus aller Welt jährlich über die knapp 13.000 Einwohner herfielen, was pro Kopf mehr war, als zum Beispiel Venedig ertragen musste.
Auf einer pinken Yogamatte streckte gerade eine grauhaarige Mittsechzigerin wenig elegant ihren Popo in die Höhe. Der Mann im Hauseingang verzog angewidert das Gesicht und wetterte weiter. »Das sind doch keine Touristen, das sind Terroristen! Wir sind noch mehr am Arsch als diese blöde Kuh da!«
Marlena hoffte grinsend, dass die Dame kein Tschechisch verstand.
Die Lust auf Sightseeing war ihr gründlich vergangen. Rasch öffnete sie eine App und suchte sich den Weg zum Krankenhaus.
Die Poliklinik lag nahe dem Stadtzentrum, ein mehrgeschossiger Zweckbau in Grau, Grün und Gelb. »Du wirst wohl nie Kulturerbe«, murmelte Marlena bei dessen Anblick und betrat das Foyer. Zu ihrem Glück war das Spital nicht besonders groß.
Sie schob einen riesigen Blumenstrauß vor sich her, den sie auf dem Weg billig an einer Tankstelle erstanden hatte, und wandte sich zur Information. Dahinter thronte ein glatzköpfiger Portier mit Schnauzbart und sah ihr freundlich entgegen.
»Guten