Der Artikel von Yana Chaplinskya befasst sich mit den aktuellen Problemen des Arbeitslebens in Russland und der Zerrissenheit der Lebensführung unter den Bedingungen einer zugemuteten „Patchwork-Identität“. War es zuerst der Zerfall des Sowjetischen Kultur, des zugrunde liegenden Menschenbildes und der sie tragenden Wertvorstellungen, der die Menschen in Unsicherheit und Orientierungslosigkeit stürzte, so ist es heute die Dynamik der modernen russischen Gesellschaft, die perspektivischen Risiken der eigenen Lebensentscheidungen und die durch die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Informationen überfordernde Globalisierung, die bei den Menschen nicht nur ein hohes Maß an Unsicherheit und Stressbelastung hinterlassen, sondern auch den individuellen Sinnverlust und die Ungewissheit der eigenen Personalität weiter fortsetzen. Die modernen beruflichen und soziokulturellen Anforderungen zwingen den postsowjetischen Menschen in eine Patchwork-Identität hinein, die zu bewältigen er schlecht gerüstet ist. Mehr denn je stellt die Arbeit für die postsowjetischen Menschen hohe und vor allem unüberschaubare Anforderungen, während zugleich die Wahl des Berufes auf einem sehr schwankenden Grund der Vorkenntnisse, der Kompetenzerwartungen und der Zukunfts-prognosen zu treffen ist. In der neuen Arbeitsgesellschaft ist jeder auf sich alleine gestellt und muss selbst die Wege finden, für sich und die Seinen eine Lebensbasis, ein Einkommen und eine gewissen existenzielle Sicherheit zu erwerben. Die Instabilität der Verhältnisse macht diese Bemühungen besonders anstrengend: Das Tempo der Veränderungen am Arbeitsmarkt, die Notwendigkeit, für das eigene Fortkommen zahlreiche und vor allem die richtigen Beziehungen zu pflegen und stets aufmerksam zu sein, um berufliche Chancen nicht zu verpassen, sich möglichst viele Qualifikationsnachweise zu erwerben, um für jede zu erwartende Situation des beruflichen Wandels gerüstet zu sein, stellen den Menschen fortlaufend unter Stress. Sie verlangen ihm ferner eine Rollenvielfalt ab, die es zu balancieren gilt – eine nicht minder schwierige Aufgabe.
Als eine „natürliche Art der Selbstverwirklichung“ ist Arbeit von hoher Bedeutung für die Zufriedenheit des Menschen, sie darf aber nicht seinen gesamten Alltag einnehmen und bestimmen. Burnout und seelische Erkrankungen sind in Russland neue Phänomene, die vor allem auf eine überfordernde Arbeitssituation zurückgehen. Daher gilt es zum einen, die Arbeitsbelastung zu begrenzen und die Arbeit mit den eigenen Interessen, Stärken und dem individuellen Lebenssinn zu verbinden, zum anderen die Menschen mit einem reflexiven Vermögen auszustatten, das ihm erlaubt, sich selbst in seinem körperlichen und seelischen Wohlbefinden wie auch in den Belastungen aufmerksam zu beobachten und zu lernen, in und außerhalb der Arbeit im Dienste seines Wohlergehens für sich selbst zu sorgen. Chaplinskayas Artikel zeigt nicht nur den Einfluss eines humanistisch-individualistischen Denkens auf die jungen Menschen in Russland, sondern auch ihre Hoffnung, dass es durch aufmerksame Selbstbeobachtung und eine gelingende Sinnsuche möglich wird, wieder seine Mitte zu finden, die neuen beruflichen und soziokulturellen Anforderungen der postsowjetischen Gesellschaft zu bewältigen und „im Chaos eine Ordnung zu finden“.
So schwierig es ist, am Ende eines Buches mit solch thematisch und perspektivisch unterschiedlichen Beiträgen eine Summe zu bilden, so versucht der Herausgeber doch die anfangs grundlegend gestellte Frage nach der Existenz und Fassbarkeit einer „postsowjetischen Identität“ bilanzierend aufzugreifen und wenn schon nicht einheitliche Merkmale einer solchen Identität, so doch gemeinsame Rahmenbedingungen für die Erfüllung jener Aufgabe zu benennen, die die Erarbeitung einer neuen Identität für die postsowjetischen Länder darstellt. In vielfacher Bezugnahme auf die Autoren und Autorinnen dieses Buches beschreitet Wolfgang Krieger dabei in Folge zwei getrennte Wege:
Er rekapituliert zunächst die für die Länder der Sowjetunion gemeinsame Geschichte, deren politische und soziale Bedingungen durch den universellen Anspruch der Ideologie die kollektive kulturelle Identität der „Sowjetmenschen“ , nicht nur im Gelingen des ideologischen Programms, sondern auch in seinen Zerwürfnissen und seinem Scheitern, geprägt haben. Im Dreischritt von der sowjetischen Identität über die „transformatorische Identität“ zur postsowjetischen Identität werden die zentralen sozialen und politischen Strukturen und kulturpsychologischen Wirkungen der verschiedenen Stadien in der sowjetisch-postsowje-tischen Entwicklung nachgezeichnet und setzen sich wie ein Puzzle allmählich zusammen zu einem Gesamtbild der Chancen und Lasten der Vergangenheit bei der Bewältigung der heute bestehenden Aufgaben der postsowjetischen Gesellschaften. Dabei zeigt sich: Der „neue Mensch“ als Entwurf einer allgleichen kollektiven Identität des Sowjetmenschen war Fakt und unhinterfragte Selbstverständlichkeit und ist bis heute ein wirksames Fundament auch in der postsowjetischen Identitätsbildung, auch wenn es nicht geliebt, oft bestritten und als überwunden bezeichnet wird. Derlei Befangenheit widersetzt sich der Transformation und nur in ihrer Aufarbeitung können neue Positionen evolvieren.
Der zweite Weg verfolgt den Versuch einer Beantwortung der Frage nach den Wurzeln und Problemen einer möglichen postsowjetischen Identität über die Belichtung einzelner identitätsbildender Sektoren wie der „ethnischen und nationalen Identität“, der „religiösen Identität“, der „Genderidentität“, der „beruflichen Identität“ und der Konstruktion sogenannter „einfacher kollektiver Identitäten“. Dies ist nicht möglich, ohne ein paar Aspekte gründlich zu vertiefen und sie so der Oberflächlichkeit purer Erwähnung zu entreißen. Krieger legt in allen Sektoren dar, dass vor allem die in Russland vorangetriebene Gegenreform, aber auch der in einigen Staaten erstarkende Totalitarismus die Öffnung zu neuen Identitätshorizonten vereitelt und ängstliche Tendenzen zur Selbstverschließung und damit Stagnation hingegen angetrieben werden. Die gleichen Kräfte verhindern das Wachstum von Toleranz und individueller Autonomie und die Etablierung demokratischer Strukturen in den Institutionen, ganz zu schweigen von der Entwicklung eines staatsbürger-schaftlichen Bewusstseins in der Bevölkerung. So bleiben die meisten Menschen auch dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion zurückgeworfen auf die bescheidenen Chancen, im Privaten, in der Familie, im Freundeskreis und allenfalls im Beruf ein erfülltes Leben führen zu können, während ihr Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft sich den Schäden der spätsowjetischen Ära noch immer kaum entziehen kann. Staatsbürgerlich vereint ist man nur in der „negativen Identität“ (Gudkov), im Wissen, wer man nicht sein will, zu wem man nicht gehören will, was man zu beschimpfen und wogegen man sich zu wehren hat; an positiven zukunftsgerichteten Visionen, die die Bürger*innen zur Mitgestaltung des Staates und der Gesellschaft motivieren könnten und sich nicht darin genügen, die Vergangenheit zu verherrlichen, fehlt es aber eklatant. Dass es an solchen Visionen mangelt, hat eine Vielzahl von Gründen, hinsichtlich derer wohl alle postsowjetischen Staaten weitgehend unterschiedslos vereint sind, insofern sich diese Gründe aus der gemeinsamen Geschichte der ideologischen Bevormundungen, der Unterwerfung und Entpersönlichung der Sowjetzeit und all der sich hieraus ergebenden Deprivationen in menschlicher, sozial-kommunikativer, moralischer und auch lebens-praktischer Hinsicht, ableiten. Diese verlorenen Terrains wieder zu erobern, stellt die eigentliche Aufgabe der postsowjetischen Identität