Nomeda Sindaravičienė befasst sich in ihrem Artikel mit den Unterschieden zwischen den Generationen hinsichtlich der Wertorientierung und der Identifikationen mit der Sowjetzeit. Mit Beginn der Transformation existierten in Litauen (und wohl nicht nur dort) drei verschiedene Orientierungen nebeneinander, ein sowjetische, eine national und eine westlich ausgerichtete. Diese Orientierungen korrespondierten in gewissem Umfang mit den Generationen; quer zu den Generationen spielte aber das persönliche Schicksal und die eigene Rolle im sowjetischen System eine mindestens ebenso maßgebliche Rolle. Sindaravičienė unterscheidet zwischen der „alten Generation“ der noch vor dem Ende des zweiten Weltkrieges Geborenen, die zwischen ihren vorigen, oft westlich oder religiös geprägten Wertvorstellungen und den sozialistischen Werten einen Konflikt erlebte, der „jüngeren Generation“, die während des Krieges und bald danach geboren wurde und entweder im Aufbau der Sowjetgesellschaft wesentlich engagiert und ideologisch von ihr geprägt waren oder auch alles verloren hatten, sich immer bedroht fühlten und unaufällig bleiben mussten, der „verlorenen Generation“, die nach den Sechzigerjahren geborgen wurde, die große Rezession erlebte und mit ihr den Glauben an den sozialistischen Lebenssinn und die bisherigen Wertorientierungen verlor, und die heutige „unabhängige Generation“ der nach den Neunzigerjahren Geborenen, die im Wertevakuum der verlorenen Generation aufgewachsen ist und, ausgestattet mir mehr Freiheit als irgendeine Generation vor ihnen, eher verlegen vor der Aufgabe steht, sich neu zu orientieren. So bilden sich neue Typen von Orientierungen heraus mit neuen Prioritäten in Hinsicht auf Bildungsideale, soziales Engagement, Prestiges und sozialen Status und andere materialistische Werte. Auch eine Rückbesinnung auf vorsowjetische Traditionen, Religiosität, Familienkultur und nationale Größen auf der einen Seite und westliche politische, soziale, ökologische und demokratische Werte, Individualismus und eine ausgeprägte Konsumhaltung auf der anderen Seite kennzeichnen die neuen Orientierungen der jungen Generation.
Mit der Entwicklung einer staatsbürgerlichen Identität und ihren Rahmenbedingungen im nachrevolutionären Armenien befasst sich Sona Manusyan. Sie erläutert zunächst vor dem Hintergrund der Historie des Landes den Dominanzanspruch der ethnisch ausgerichteten Selbstwahrnehmung innerhalb der nationalen Identität der Armenier, dem gegenüber das staatsbürgerliche Fundament vergleichsweise schwach ausgeprägt ist. Ob die ethnische Identifikation ein Garant für sozialen Zusammenhalt ist, wenn ein staatsbürgerliches Selbstverständlich kaum ausgeprägt ist, erscheint jedoch fraglich, zumal wenn zwischen den Generationen und sozialen Schichten doch erhebliche Differenzen hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen und Lebensziele zu finden sind, die nun durch die Revolution noch verstärkt worden sind. Es war diese Erfahrung einer erfolgreichen Revolution gegen das alte, von Korruption, Vetternwirtschaft und Bürgerferne gekennzeichnete Regime, die nicht nur den Menschen, die die Revolution getragen haben, ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein vermittelt hat, sondern allen Bürger*innen gezeigt hat, dass sie Regierungen selbst bestimmen und den Staat mitgestalten können. Dennoch müssen viele Dimensionen einen staatsbürgerlichen Selbstverständnisses, die in der armenischen Vergangenheit nie entstehen konnten, erst noch aus der Taufe gehoben werden – ein neues Verständnis bürgerlicher Verantwortung, von Solidarität und Teilhabe – und ein neues, von wechselseitigem Vertrauen getragenes Verhältnis zwischen Staat und Bürger*innen muss sich mit der Zeit etablieren.
Manusyan untersucht die konkurrierenden Selbstverständnisse verschiedener Gruppen entlang von sieben Gegensatzdimensionen, nämlich den Spannungsverhältnissen zwischen dem ethnischen und dem bürgerlichen Selbstverständnis, dem Traditionellen vs. Progressiven, dem Persönlichen vs. Öffentlichen, dem Institutionellen vs. dem Agenten, der Vergangenheit vs. der Zukunft, dem Diskurs vs. der Praxis und dem Selbstverständlichen vs. der Selbstreflexiven. Zum einen Seite führt die ethnische Fundierung des Nationalen immer wieder dazu, dass die Normen der nationalen Identität mit Intoleranz und hohem Konformitätsdruck verteidigt werden, auf der anderen Seite scheint das bürgerliche Selbstbewusstsein noch zu wenig ausgeprägt, um den nationalistischen Vereinfachungen die Ansprüche einer freiheitlichen, demokratischen und pluralen Solidarität entgegenzusetzen. Auch zwischen den Polen des Konservativen und des Progressiven wandeln – mit starken genera-tionellen Bindungen – die Identitätsentwürfe der Bürger*innen, eingespannt zwischen dem Wunsch nach einer freieren Lebensführung und einer diese einschränkenden traditionellen Familienorientierung. Solche Widersprüche spiegeln sich auch in der Doppelmoral zwischen der nach außen gezeigten und privatim tatsächlich gelebten Praxis. Das ehemals durch Tradition wie auch durch die sowjetische Gesellschaftsmoral kontrollierte Individuum hat sich seit geraumer Zeit als trotzigen Widersacher gegenüber der Gesellschaft entworfen, der der gesellschaftlichen Realität, insbesondere den Institutionen mit sozialem Zynismus entgegentritt und jenseits dieser Realität sein Glück sucht. Es rächt sich heute durch einen rücksichtlosen Egoismus, blinden Konsumismus und uneingeschränkten sozialen Wettbewerb, dem offenbar jegliche Wahrnehmung öffentlicher Interessen fremd ist. Dieser Entwicklung kann, wenn die Druckmittel der Tradition und des Kollektivismus nicht mehr ausreichen, nur ein bürgerliches Bewusstsein entgegenwirken, das die Individuen nicht nur als Träger von Freiheitsrechten, sondern auch von Pflichten und Rücksichten sieht und hierauf eine neue Solidarität gründet. Ihm steht der Staat als Garant der Rechte, aber auch als Forderer der Rücksichten gegenüber.
Edina Vejo und Elma Begagić beleuchten die Situation der postsozialistischen Länder des Balkans nach dem Zerfall Yugoslawiens am Beispiel der Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina. Wie in den anderen Staaten auch war die Suche nach einem neuen Selbstverständnis der Menschen und ihrer Gesellschaft vor allem geprägt von Tendenzen der Kontrastierung