»Ihr Bruder hat im vorigen Jahr Monika Ziegler kennen gelernt?«
»Sicher. Und ich kann Ihnen flüstern, er hat sie mächtig beeindruckt.«
Mit letzter Kraft behielt Rogge sein Gesicht unter Kontrolle. Fuhrmann hatte nichts bemerkt, er schien mehr mit sich selbst zu reden als mit Rogge, der heftig die Zigarette ausdrückte, um seinen Kopf zum Aschenbecher senken zu können.
»Na ja, was kann’s schon verderben - vier Mal ist er hier gewesen und hat mich um Geld erleichtert.« Jetzt schnitt Fuhrmann eine Grimasse, aber die Verachtung galt nicht Rogge. »Zweimal offen, zweimal heimlich, weil Lene mir die Pistole auf die Brust gesetzt hatte - dieser Mensch, Schwager hin oder her, käme ihr nicht mehr ins Haus.«
»Das letzte Mal - das war im September?«
»Ja«, bestätigte Fuhrmann zerstreut. »Danach hat er Ruhe gegeben.«
»Wenn er Sie besuchte, ob offen oder heimlich - ist er dann über Nacht geblieben?«
»Wo denken Sie hin!«, spottete Fuhrmann zornig. »Hier übernachten? Lene hätte mir was gehustet! Nein, er kam am späten Nachmittag und ist abends immer wieder zurückgefahren. Ein schnelles Auto leistet er sich ja.«
Rogge lächelte flüchtig. Hier war noch längst nicht alles ausgesprochen, natürlich verheimlichte der Arzt etwas, aber Rogge hatte erfahren, was er wissen musste, und deshalb erhob er sich: »Vielen Dank, Herr Dr. Fuhrmann, ich will Sie nicht länger aufhalten.«
Beim Anblick der Frau in der Tür fiel Rogge nur das Wort farblos ein. Eine blasse Frau, die man anschaute und sofort wieder vergaß. Dazu etwas ängstlich, fast wie geduckt, immer besorgt, sie könne etwas falsch machen. Die Kittelschürze schien ihr am Leib festgewachsen.
»Meine Tochter ist nicht da«, sagte sie unruhig. Sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, seinen Dienstausweis gründlich anzugucken.
»Oh, das ist schade. Wissen Sie, wo ich sie finde?«
Jetzt zeichnete sich trotzige Verlegenheit in ihrem Gesicht ab. Sie hatte sandfarbene, strohige Haare und vor zwanzig Jahren lautete wahrscheinlich das größte Kompliment, das man über sie verbreitete, ganz niedlich. Aber das war lange her.
In der Wohnung rumorte jemand, sicherlich ihr Mann, und
seinetwegen würde sie Rogge nicht hereinbitten. Deshalb trat Rogge näher heran und senkte die Stimme: »Sie ist draußen auf dem Scherkenhof, bei Jo Thelen, nicht wahr?«
Die Frau nickte verstohlen und drehte unwillkürlich den Kopf zur Seite.
Papa Ziegler schätzte es wohl nicht, wenn sich seine einzige Tochter mit einem gescheiterten Elektriker herumtrieb. Frauen gehörten ins Haus und sein Verhältnis mit Angi Lohse, der schönen Bärenwirtin, betrachtete er bestimmt als sein gutes Recht.
»Vielen Dank, Frau Ziegler.«
Man konnte den Scherkenhof auch auf einer schmalen geteerten Straße erreichen; mühsam war nur das Entziffern der Hinweisschilder, die alle so aussahen, als hätten Generationen von Schulkindern sie als Zielscheiben für ihre Katapulte genutzt, und zwar erfolgreich. Kaum ein Hofname war wegen der abgeplatzten Farbe oder Löcher deutlich zu lesen und der Rost erledigte den Rest.
Zwei große Hunde trotteten gemütlich auf Rogge zu, als er ausstieg, und beschnüffelten ihn gründlich. Erst nach der Inspektion bellte jeder einmal kräftig. Auf das Signal hin kam ein großer Mann aus dem Haus geschlendert.
»Guten Tag, mein Name ist Rogge. Ich müsste unbedingt einmal mit Monika Ziegler sprechen - wenn sie hier ist.«
»Sie hilft in der Küche. Wollen Sie nicht hereinkommen?«
»Nein, vielen Dank, es wäre sehr liebenswürdig, wenn Sie Monika herausschicken würden.«
»Mach ich!«, versprach der Mann etwas verwundert.
Monikas Lippen begannen zu zittern, als sie Rogge erkannte. »Guten Tag, Herr Rogge.« Sieh mal an, seinen Namen hatte sie also behalten.
»Tach, Monika. Ich muss mit Ihnen einmal unter vier Augen sprechen.«
»Das passt - wir sind gerade beim Kochen ...«
»Tut mir Leid, aber es muss sein.«
»Ja - ja ... Ich sag nur Jo Bescheid.«
»Unter vier Augen, Monika!«, warnte er und sie nickte kläglich.
Offenbar dauerte es länger, Jo Bescheid zu sagen; denn Rogge wartete fast zehn Minuten, bis Monika Ziegler wieder herauskam, den Reißverschluss ihres Anoraks hochziehend. Jetzt ähnelte sie auf fatale Weise ihrer Mutter, blass und unscheinbar.
»Gehen wir ein paar Schritte? Ich bin heute Morgen ein ganzes Ende Autobahn gefahren, von Hannover bis hierher, ich muss mir die Füße vertreten.«
Den schnellen Blick von der Seite konnte sie nicht unterdrücken und Rogge sah, wie sich ihr Gesicht verkrampfte.
»Ja, ich habe mich mit Eberhard Fuhrmann in Hannover unterhalten.«
Jetzt lief sie wie ein Automat, der Fuß vor Fuß setzte, und ihre Furcht war fast körperlich zu greifen. Aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen.
»Was wir jetzt bereden, bleibt unter uns. Deine Eltern erfahren nichts und auch Jo Thelen nicht. Aber du musst jetzt alles erzählen. Einiges kann ich mir schon zusammenreimen, nicht alles, aber doch den größten Teil.« Ein Bluff, zugegeben, und sogar ein ausgesprochen hässlicher, aber Rogge wollte diesen Schutzpanzer durchbrechen. »Du hast im vorigen Jahr den Bruder deines Chefs kennen gelernt?«
Nach einer Weile nickte sie und schaute auf ihre Schuhspitzen.
»Er hat dich ziemlich beeindruckt, nicht wahr?«
»Ja.« Ein Hauch nur, aber immerhin.
»Wie weit ist das zwischen euch gegangen, Monika?«
Eine Minute Schweigen. Eine zweite Minute.
»Hat er dich oben auf der Feltenwiese vergewaltigt?«
»Woher wissen Sie ...« Angesichts der Panik in ihrer Stimme schämte er sich. Doch sie hatte sich verraten, sie würde selbst einsehen, dass sie nun reden musste. Zwei Minuten, drei Minuten.
»Nein, er war es nicht.«
»Wer dann?«
Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. Geduld, mahnte Rogge sich und musterte sie von der Seite; sie wagte nicht, ihn anzusehen, und ihr Gesicht war kalkweiß. Es musste einen Grund geben, warum sie den Täter nicht nennen wollte, und ihre Furcht brachte ihn auf den richtigen Gedanken: »Der Mann hat gedroht, dir was anzutun, wenn du ihn anzeigst?«
»Ja.«
»Monika, ich verstehe, dass du Angst hast. Trotzdem musst du jetzt reden. Wir nennen den Täter einfach mal den Mann, einverstanden? Du musst mir seinen Namen nicht verraten, er ist einfach der Mann. Okay?«
»Aber wenn Sie ihn verhaften, weiß er doch, dass ich ihn angezeigt habe.«
Komisch, dass er sie automatisch geduzt hatte! Bei Gertrud wäre ihm das nicht passiert. Aber der Wirbelwind Gertrud wirkte auch viel erwachsener als dieses verschreckte Kind neben ihm. »Nein. Ich kann ihn nur verhaften, wenn du vorher eine Aussage bei der Polizei gemacht und unterschrieben hast.«
»Und das muss ich nicht ...?«
»Nein, ich werde dich zu nichts zwingen.«
Wenigstens hob sie jetzt den Kopf. Ihn schaute sie immer noch nicht an, aber sie blickte geradeaus.
»Wo soll ich ...«
»Bei Eberhard Fuhrmann.«
Kili, die Kodderschnauze, pflegte in solchen Fällen zu lästern: Gib jedem die Zeit, seine Schleuse aufzukurbeln, und vergiss nicht, je fester und länger sie geschlossen