Oberkommissar Wibbeke bekam den Mund nicht zu: »Herr Rogge! Was verschlägt Sie in unser Nest?«
»Die dienstliche Höflichkeit!« Er lachte und winkte unauffällig mit dem Kopf Richtung Hinterzimmer.
Wibbeke schaltete sofort: »Das ist einen Kaffee wert, was meinen Sie?«
»Sie retten einen Verdurstenden.«
Der Kaffee stellte sich als um Klassen besser heraus als die Einrichtung des Büros und Wibbeke, dem Rogges schneller Rundblick nicht entgangen war, zuckte die Achseln: »Stramme Haltung ersetzt festes Mobiliar.«
»Und nicht besetzte Planstellen.«
»Na klar.« Der Oberkommissar griente schräg, überall war es das gleiche Elend.
»Also, Herr Wibbeke, ich möchte halb dienstlich, halb privat vermelden, dass ich mich in der nächsten Zeit hier herumtreiben werde, hauptsächlich in Stockau.«
»Aus einem bestimmten Grund?«
»Inge Weber. Mein Abteilungsleiter Simon hat mich mit dem Fall beglückt.«
»Heiliges Blechle! Mag er Sie nicht leiden?«
»Nein, eigentlich haben wir uns ganz gut zusammengerauft. Aber Kollege Grembowski ist keinen Schritt weitergekommen.«
»Ich verstehe. Und warum gerade Stockau?«
Rogge seufzte leise. Der Henker mochte wissen, ob und wann er auf Wibbekes Hilfe angewiesen war, und außerdem hielt er nichts davon, Kollegen einfach etwas an den Kopf zu knallen und jede Erklärung zu verweigern.
»Sie kennen den Fall?«
»Natürlich. Bis Weihnachten war das hier das große Kneipengespräch.« Dabei strahlte der Oberkommissar. »Und dann dieses XY ... ungelöst - zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde Stockau im Fernsehen erwähnt. Davon zehrt man hier lange.«
»Haben Sie gezielt nach der Frau gefragt?«
»Nein, von Tür zu Tür sind wir nicht gegangen. Aber der Stockerbote hat die beiden Bilder dreimal gebracht, jedes Mal schön groß und an prominenter Stelle. Wenn jemand die Frau kennen sollte, hatte er Gelegenheit, sich zu melden.«
»Damit sind wir beim Thema. Ich habe sie mir angesehen, Herr Wibbeke, so eine Frau lässt sich nicht einfach das Kleid wegnehmen.«
»Plus Handtasche, Schuhe und Strümpfe«, ergänzte Wibbeke ernsthaft und klemmte die Mundwinkel ein.
»Plus Handtasche und Schuhe, sicher. Strümpfe - ich weiß nicht, es war ein sehr warmer Tag.«
»Sie vermuten also, sie hat das Kleid freiwillig ausgezogen?«
»Mit irgendeiner Theorie muss ich ja anfangen. Deshalb habe ich mir den Parkplatz angesehen, und auch die Feltenwiese.«
Weil Wibbeke eine Grimasse schnitt, hob Rogge die Hand: »Sie wissen, was da an schönen Abenden und in lauen Nächten abläuft?«
»Klar, da wird gerammelt, was das Zeug hält.«
»Wenn die Frau nun mit einem Mann verabredet war, zu eben diesem Zweck?«
Nach einer Bedenkpause schüttelte der Oberkommissar den Kopf: »Ich weiß nicht, Herr Rogge. Eine Frau, die für mehrere tausend Mark Schmuck trägt - ob die sich wirklich für Freiluft-Auto-Sex interessiert?«
»Sie meinen, sie hätte ein Motel vorgezogen?«
»Ja, zum Beispiel diesen schauerlichen Schuppen oben am Beilhorner See oder das Gästehaus des Bären.«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Was, wenn der Mann es nicht wagen konnte, in das Motel oder in den Bären zu gehen?«
»Weil man ihn oder sie erkannt hätte?«
Rogge schmunzelte nur und Wibbeke kratzte sich verlegen den Kopf. Auf diese Idee war er noch nicht gekommen.
»Bis heute Morgen war ich auch fest davon überzeugt, die Frau hätte in einem Wagen gesessen, der über die Autobahn zu dem Parkplatz gekommen ist. Bis ich mir die Fahrspuren auf der Feltenwiese und im Wald näher angesehen habe.«
»O je, da haben Sie was am Wickel.« Wibbeke stöhnte, das Thema war ihm unangenehm. »Wie oft haben wir da schon eingegriffen und Strafzettel verteilt. Und das Forstamt bekniet, endlich eine Sperre einzubauen. Aber alles für die Katz. Wer sich auskennt, benutzt den Wirtschaftsweg und den Parkplatz als wilde Autobahnauffahrt.«
»Na fein. Unterstellen wir mal, die Frau war mit jemandem verabredet, der hier Bescheid weiß. Sie fahren über die Feltenwiese zum Waldrand, es kommt zum Streit, vielleicht, weil sie mehr als das Kleid nicht ausziehen will, er gibt Gas, entfernt sich Richtung Autobahn und sie dackelt zum Parkplatz, weil sie ja irgendwie wegkommen muss, sich aber nicht ins Dorf traut.«
»Glauben Sie denn, dass diese Inge Weber simuliert?«
»Ich würde meine Hand weder für ein Nein noch für ein Ja ins Feuer legen.«
Was Wibbeke wirklich von Rogges Theorie hielt, ließ er nicht erkennen, sondern rührte lange in seiner Tasse. Rogge betrachtete ihn ausdruckslos, bis Wibbeke unwillig Luft holte: »Einen Versuch scheint es wert.«
»Ja. Deshalb werde ich mich im Bären einquartieren, unter meinem Namen auftreten und allen Stockauern umgehend auf die Nase binden, warum ich im Dorf herumlungere.«
»Sie wollen also Staub aufwirbeln.«
»Oder jemanden nervös machen, ja. Und wenn ich völlig danebenliege - nun, dann habe ich zwei Wochen ausgespannt und den regionalen Tourismus angekurbelt.«
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie ein großer Fußgänger vor dem Herrn sind.«
Rogge lachte. Zwar hatte er Wibbeke nicht überzeugt, damit hatte er auch gar nicht gerechnet, aber der Oberkommissar würde mitspielen.
»Am besten besorgen Sie sich drüben in der Buchhandlung Steffen eine Wanderkarte.«
»Danke für den Tipp. Warum heißt dieser Hang Feltenwiese?«
»Felten, Hermann Felten war mal der größte Bauer hier im Tal, vor dem Krieg war das. Ein grober Klotz und stur wie ein Felsen. Aus der Schulzeit hatte er einen Intimfeind, den Sohn eines Landarbeiters, der auf keinen grünen Zweig kam. Dieser Ohlig biederte sich bei den Nazis an und wurde endlich Kreisbauernführer. Worauf Felten einen saugroben Brief an den Gauleiter schrieb, eine Partei, in der Ohlig was geworden sei, könne ja nur aus Dummköpfen und/oder Verbrechern bestehen.«
»Oha!«
»Es wurde mehr als Oha, Herr Rogge. Zwischen Felten und Ohlig brach der Krieg schon vor 1939 aus und irgendwann 1941 oder 1942 wurde Felten abgeholt.«
»Was ist aus ihm geworden?«
»Auf der Flucht erschossen. Offiziell. Was in Wahrheit geschehen ist ...«
»Und Ohlig?«
»Den hat’s 1947 erwischt. Mit einer Hacke erschlagen, der Täter ist nie gefunden worden. Der Feltensohn war zwar in Verdacht geraten, hatte aber ein mehr oder minder stichfestes Alibi. Anfang der fünfziger Jahre hat er verkauft und ist weggezogen. Seitdem heißt dieser Hang die Feltenwiese.«
Dorfgeschichten; Rogge sah Wibbeke nachdenklich an. Alte Rechnungen, nie abgeschlossen, nie als erledigt verbucht.
»Eine Frage noch: Im Bären bedient eine junge Frau, ich hab sie heute Vormittag zufällig vor dem Gasthaus gesehen.«
»Gertrud Leiwen.« Wibbeke schnalzte mit der Zunge. »Ein ziemlicher Feger. Sie liebt Trinkgelder, fesche Männer und wilde Spritztouren. Aber ein ordentliches Mädchen.«
»Dann bin ich ja genau der richtige Gast.« Der Kripomann stand auf. »Ab und zu schaue ich vorbei,