Grobe Nähte. Johannes Schweikle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Schweikle
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783520754912
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Platz ist jeder Mann willkommen,

       ohne Ansehung von politischer Bindung,

       Nation oder Religion,

       der zum gemeinsamen Ziel stürmen will:

       Das Wohlbefinden des Körpers zu stärken,

       die Frische des Geistes und den Mut.

       In gerechtem Wettstreit folgen wir dem Ideal

       des freien Spiels.

       Gründungsurkunde des 1. FC Bavaria München,

       unterzeichnet am 20. Februar 1898 im Wirtshaus

       Jennerwein, Siegesstraße 18, Schwabing

      VICTOR AKBUNIKE WAR NOCH nicht lang in Bayern. Er wusste nicht, was Filser-Englisch ist. Also lachte er. Der Stürmer aus Afrika saß auf dem Beifahrersitz, Hermann setzte den Blinker und zog auf die Überholspur. Eigentlich hätte der Fahrer beleidigt sein können, weil der Beifahrer über ihn lachte. Ein hohes Hi-Hi, das sich lustig machte, glucksend und fistelig. Aber dieser kleine Spott mischte sich mit einem großen Lachen. Man könnte auch sagen, er ging darin unter. Diese Fröhlichkeit kam direkt aus dem Herz. Ein ursprüngliches Gefühl, das mitreißend wirkte. Seine Kraft spülte kleinliche Ehrenkäsereien einfach fort. Zwischen Victors Lippen strahlten weiße Zähne, seine Zunge leuchtete purpurrot, dann wiederholte er den Satz, noch immer geschüttelt vom Lachen: We go shopping for the Lederhosen-Shooting!

      Hermann gab seinem Beifahrer einen Klaps auf den Schenkel und lachte mit. Er war schon so lange beim FC Bavaria München, dass sich kaum jemand an eine Zeit erinnern konnte, als der Verein noch keinen Hermann hatte. Bei den Spielern war er beliebt, weil er dem Wesen nach ein Fußballer geblieben war. Bei den Funktionären war er beliebt, weil er sich für keinen Auftrag zu schade war. Er stellte nicht nur keine Fragen, sondern machte sich sonnigen Gemüts an die Arbeit. Jede Mannschaft braucht mindestens einen Hermann, wenn sie funktionieren soll.

      Das Auto, in dem die beiden fuhren, kam vom Sponsor. Die grauen Sitze waren mit roten Nähten abgesteppt. Victor strich über das Leder und freute sich, wie glatt und kühl es sich anfühlte. Hermann freute sich über den Sound. Wenn er Gas gab, kam ein fetter, tiefer Klang, lauter als Bayern 3. Man hörte und spürte eine kaum gebändigte Kraft. Victor sagte wow und reckte den Daumen nach oben. Die beiden Männer fuhren behaglich vereint. Das Nummernschild gab ihnen ein gemeinsames Ziel vor: M – CL 2016. Nur Menschen, die nicht auf dem Planeten Fußball lebten, musste man erklären, wofür CL stand: Champions League.

      Nach drei Autobahnkreuzen zeigte Hermann stolz zum Horizont und erklärte dem Afrikaner, das seien die Alpen. Wirklich hohe Berge, mit ewigem Schnee. Der Watzmann, der steht aufrecht wie ein Zuckerhut. Bayern ist nicht überall flach, verstehst, wir haben mehr zu bieten als Schotter. Bei uns kannst du auch Skifahren. Wir hatten sogar schon mal die Olympiade, im Winter 36, in Garmisch siehst du noch die Schanzen.

      Kann sein, dass Victor nicht alles verstand, aber er fühlte sich wohl in dieser Mischung aus Englisch und deutschem Dialekt. Vor Hermanns ungekünstelten Sätzen musste er nicht auf der Hut sein. Der weiße Mann sprach freundlich, seine Neugier auf den Schwarzen hatte nichts von einem Zoobesucher. Und er kränkte ihn nicht mit Dummdeutsch für Ausländer. So holprig Hermann sprach, so ehrlich war sein Bemühen um Verständigung. Auf dieser Grundlage kam Victor ins Erzählen. Er staunte weniger über das Licht, das Gipfel und Grate leuchten ließ. Sein Interesse galt der Straße. Ein Grünstreifen in der Mitte, ordentliche Leitplanken, drei Spuren auf jeder Seite, so ging es zwischen Wiesen und Hügeln dahin. Ab und zu waren Dörfer in die Landschaft gesprenkelt. In Lagos gab es auch breite Straßen. Aber gleich hinter der Stadt hörten sie auf.

      Wenn du aufs Land fährst, kommt schnell das richtige Afrika, weißt du, viel Staub und Schotter. Streckenweise nehmen wir Asphalt, aber der hat große Löcher, und es gibt keine weißen Streifen. Wenn wir mit dem Bus zum Auswärtsspiel gefahren sind, kamen wir manchmal zu spät, weil der Fahrer unterwegs einen Reifen wechseln musste.

      Hermann hatte noch seinen Atlas aus der Schulzeit. Er stand im Wohnzimmer im Regal, neben dem Buch von Beckenbauer, Einer wie ich. Er hatte nachgeschaut, wo Nigeria lag. Drei Städte waren in diesem Land verzeichnet, Lagos fand er ein bisschen links vom großen Knick in der afrikanischen Küste. Er fragte seinen Beifahrer, ob er dort das Fußballspielen gelernt habe.

      Das ist eine lange Geschichte, mein Freund, sagte Victor. Dann erzählte er von seinem Dorf und von der ersten Fahrt in die große Stadt. Er hatte nichts mitgenommen, weil er viel Schlimmes gehört hatte über Diebe, ganz Lagos sei voll von Gesindel. Also stieg er mit kurzer Hose und dem gestreiften Trikot in den Bus. Keiner konnte ihm die Stutzen klauen, weil er keine hatte.

      Zwischen Englisch, Deutsch und Bayrisch holperte das Gespräch dahin. Möglich, dass auch Hermann nicht alles verstand, was Victor erzählte: Ich hatte einen Schuh, für den rechten Fuß. Der war schwarz und hatte ein Loch am Innenrist. Aber kein Fake, original Adidas, die weißen Streifen waren gut genäht. Weil ich nicht wie ein Amateur aussehen wollte, trug ich links einen Schlappen. Der war eigentlich braun, aber ich habe ihn schwarz angemalt. Gleich nach dem Anpfiff merkte ich, dass ich mit ihm nicht schnell laufen kann, deshalb legte ich ihn neben den Torpfosten und spielte halb barfuß. So schoss ich das Tor zum Sieg.

      Mit welchem Fuß? fragte Hermann.

      Mit dem Kopf, sagte Victor. Unser Sieg war eine Sensation. In Afrika gewinnt die Heimmannschaft. Sie bezahlt den Schiedsrichter, und der weiß, was er schuldig ist. Aber mein Tor war eindeutig. Kein Abseits, kein Foul – ich konnte mich bei keinem Verteidiger aufstützen, weil keiner mich bewacht hat. Außerdem hatten sie in Lagos Netze an den Toren. Der Ball lag drin, und keiner konnte behaupten, mein Schuss sei vorbei gegangen. Der Torwart hat heftig mit Händen und Armen auf den Schiedsrichter eingeredet, ihn beschimpft. Aber als der standhaft geblieben ist, landete die Schuld ganz schnell beim Torwart. Die Anhänger seiner Mannschaft haben ihn verspottet und auf der Tribüne gesungen: In unsrem Tor, da steht ein alter Mann!

      Nach dem Schlusspfiff lag mein Schlappen nicht mehr neben dem Pfosten. So schnell wir konnten, sind wir zum Bus gerannt. Die Wut der Gegner galt jetzt uns. Der Fahrer hat den Gürtel aus der Hose gezogen, das war seine Peitsche, damit hat er uns den Weg freigedroschen. Im Gedränge hat mein nackter Fuß einiges abbekommen. Mit Geheul haben die Verlierer am Bus gegen das Blech getrommelt. Als wir drin waren, haben wir die Fenster aufgemacht und sie verhöhnt. Ein dicker Mann hat sich nach vorn geboxt und zu mir herauf gerufen: Hey, Nummer neun, komm raus. Ich bin Manager – ich bring dich zu den Bridge Boys!

      Geh, so ein Schmarrn, sagte Hermann, wer sind die Bridge Boys?

      Julius Berger Football Club, sagte Victor, spielt in der Premier League. Berger ist eine Baufirma, sie baut alle großen Brücken. Jonathan Akpoborie hat für die Bridge Boys gespielt, und Sunday Oliseh hat es von dort nach Europa geschafft. Zuerst dachte ich, das ist eine Falle. Der Dicke will mich aus dem Bus locken, damit sie mich verhauen können. Aber er trug das aktuelle Trikot von Manchester United. Und Gold, viel Gold: goldene Uhr, goldene Brille, goldene Halskette, goldene Ringe. Jeder konnte sehen: Das ist ein Big Boy. Überzeugt hat er mich mit einem Paar Fußballschuhen. Nike, mit denen hat er herumgefuchtelt. Sie haben geglänzt, mussten direkt aus der Shopping Mall für die Reichen kommen. Der Bus fuhr an, ich konnte nicht lang überlegen. Hab mich aus dem Fenster gezwängt und mich fallen lassen, in die Arme von Alhaji. Er hat mich beschützt und mitgenommen. In einem Mercedes sind wir zu seinem Compound gefahren. Rings um das Haus war eine hohe Mauer, oben mit Glasscherben und Stacheldraht gesichert. Alhaji hat gehupt, da kam der Boy und hat das Stahltor aufgeschoben. Ich hab eine fette Satellitenschüssel auf dem Dach gesehen, er hat mir stolz das Generatorhäuschen gezeigt. Weißt du, wenn wir zuhause Fußball im Fernsehen geguckt haben, musste immer auch das Radio laufen, weil das Bild jederzeit verschwinden konnte, wenn der Strom ausfiel. Alhaji konnte immer alles sehen. Die Mauer um seinen Compound war weiß, sein Haus aus blauem Stein, er hatte die Farbe von Taubenfedern. Das sei Marmor aus einem fernen Land, hat er mir erklärt. Und im Pool schwamm ein aufblasbarer Flamingo, der war pink.

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