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Zu Hause lege ich die CDs auf die Kommode, wo alles landet, was von draußen kommt und keinen richtigen Platz im Haus hat. Oft bleiben die Dinge dort ewig liegen. Ich nehme mir die Tageszeitung und blättere lustlos darin herum. Kurz vor Weihnachten gibt es kaum Berichtenswertes mehr. Als ob gegen Ende des Jahres alles zum Erliegen käme.
Zum ersten Mal seit langer Zeit taucht das Bild von Jo in meinem Kopf auf, wie er von oben bis unten in Jeans und mit Cowboystiefeln am ersten Weihnachtsfeiertag ins Münster schlappt, das turmlose Münster der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Er hat die Kamera über der Schulter, der Chor singt Hosianna. Hochamt. Ich bin nur wegen Friedrich hier, und der ist nur wegen seiner gut katholischen Mutter hier. Das hat sich so ergeben. Es war in den ersten Jahren die einzige Möglichkeit gewesen, Friedrich über Weihnachten zu sehen, weil seine Eltern eine ganz eigene Vorstellung davon hatten, wie die Feiertage abzulaufen hätten. Wer nicht zur Familie gehörte, war nicht erwünscht. Ich drehe den Kopf, will, dass Jo mich sieht. Aber wie üblich hat er den Fokus auf Unendlich gestellt und bewegt sich unter seiner Fotografentarnkappe. Ich habe das immer bewundert, wie man so unsichtbar bleiben und den Dingen doch so nahekommen kann.
Auch in der Redaktion war er meist nicht zu sehen gewesen, verschwunden in seiner Dunkelkammer. Zutritt nur nach Klopfzeichen, gefolgt von einem deutlichen »Ja, bitte«, das sich anhörte wie ein »Wenn’s denn unbedingt sein muss«. Nach und nach fand ich heraus, dass er nicht die ganze Zeit mit Bilderentwickeln beschäftig war, sondern einfach seine Ruhe wollte. Und als ich herausfand, dass er ganz und gar nichts dagegen hatte, wenn ich seine Ruhe störte, fand ich das aufregend. Anfangs kam ich nur, um Bilder für meine Artikel auszuwählen. In der kleinen Kammer ging es eng zu, man kam nicht aneinander vorbei, ohne sich zu berühren. Wir lachten viel über unvorteilhafte Aufnahmen von Menschen, die sich wichtig nahmen.
Zu gemeinsamen Terminen fuhren wir in seinem himmelblauen Mercedes, in dem es nach Rauch und Leder roch. Im Kassettendeck steckten sorgsam zusammengestellte Sampler mit Siebzigerjahre-Rockmusik, und auf der Rückbank türmte sich die Fotoausrüstung. Während ich meine Recherchearbeit machte oder Interviews führte, ging er herum wie ein Schatten und suchte nach Motiven. Manchmal stand er auch nur in einer Ecke und rauchte und schaute. Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, aber eines Tages entdeckte ich unter den Bildern, die er von unseren Terminen mitbrachte, immer mehr Fotos von mir, lebendige Schnappschüsse einer engagierten Jungjournalistin, mit dem Stift im Mund, mit dem Finger auf der Nasenspitze, mit der Hand die Augen abschattend, Bilder von einer jungen Frau, die mit übereinandergeschlagenen Beinen zwischen Honoratioren sitzt. Er schenkte mir Abzüge davon.
Kurz vor Ende der Semesterferien und kurz bevor ich wieder in meine Uni-Stadt zurückkehren musste, fragte er mich, ob ich ein Shooting mit ihm machen wolle. Angezogen natürlich, fügte er schnell hinzu. Irgendwo draußen. Ich lachte verlegen und meinte, das werde bestimmt peinlich. Von mir könne man keine guten Bilder machen, wenn ich wüsste, dass ich fotografiert werde. Aber ich sagte zu, und so fuhren wir mit dem himmelblauen Mercedes in die Natur. Ich hatte lange überlegt, was ich anziehen sollte, hatte mich sorgfältiger geschminkt und rutschte nervöser auf dem Ledersitz herum als sonst.
Nach dem Shooting fuhren wir in die Redaktion, es muss ein Samstag gewesen sein, denn ich kann mich an niemand anderen erinnern. Sonntags wären wir nicht allein gewesen, da hätte zumindest der Sonntagsdienst an seinem Schreibtisch gesessen, um die Zeitung für Montag zu bauen. Wir ließen uns einen Kaffee aus dem Automaten, er verschwand in der Dunkelkammer, und ich setzte mich an den leer geräumten Platz, der in den vergangenen Wochen mein Arbeitsplatz gewesen war. Ich wartete. Morgen würde ich in den Zug nach Freiburg steigen. Konnte ich nicht einfach dableiben? Aber ohne Studienabschluss würden sie mir kein Volontariat anbieten, egal wie gut ich war. Und Friedrich war in Freiburg. Schon paradox. Endlich war er nach Freiburg gezogen, und nun wollte ich nicht mehr zurück.
Als nächstes erinnere ich mich an Jos Hände über meinen Augen, warm und trocken und rauchig. Augen zu, befahl er, und ich ließ die roten Lichtschlitze zwischen seinen Fingern verschwinden. Und dann verschwanden auch seine Hände von meinem Gesicht, um die Abzüge vor mir auszubreiten. Ich vermisste sie sofort, diese Hände. Die Bilder waren sehr schön, aber auch ein wenig fremd. War das wirklich ich? War das, wie er mich sah? Da bemerkte ich, dass er mich unverwandt anschaute. Er ist viel zu alt. Und er hat eine Freundin. Und ich habe Friedrich, schoss es mir durch den Kopf. Aber wenn ich doch diese Hände noch einmal spüren könnte. Ich war Anfang zwanzig, er Anfang dreißig. Uns trennte ein halbes Leben. Mehr als zwanzig Jahre später fällt das nicht mehr so ins Gewicht, denke ich und muss lächeln.
Ich stecke die CD ins Abspielgerät und fange an, Wäsche zu machen. Heute Wäsche, gestern Wäsche, morgen Wäsche! Noch während des ersten Liedes muss ich mich hinsetzen und zuhören. Ich fummle das Booklet mit dem Text aus der Hülle und drücke nochmal auf Start. Soweit ich verstehe, singt er von Menschen, die sich nach Liebe sehnen. Was sonst? Seine Figuren treiben einsam und gleichgültig durch die Welt, werden wie beiläufig intim und gehen dann ihrer Wege. Oft lässt er ihnen einen Moment der Nähe und Geborgenheit und nimmt dann alles wieder zurück. Ständig ist jemand unterwegs, nie scheint jemand anzukommen. Seine Worte sind klar und einfach und kühl. Er begleitet sich selbst am Klavier, und manchmal widerspricht die Musik den Worten und entlarvt sie als Lüge. Ich sehe, wie er es macht, aber trotzdem tut es weh, und ich fürchte, es ist nur gut, weil es wehtut.
Seine Singstimme klingt höher als seine Sprechstimme. Ich versuche, mich genau an den Klang seiner Stimme zu erinnern, an den Klang unseres Gesprächs am Samstagmorgen. Er singt auf Französisch, aber gesprochen haben wir deutsch. Sein Deutsch ist nahezu perfekt, nur ab und zu spitzt er die Vokale kaum merklich an. Er sei praktisch bei seiner Großmutter aufgewachsen, ihre elsässische Mundart sei seine erste Sprache, erzählte er mir. In welcher Sprache er wohl träumt? Nach ein paar Wochen in Bath damals begann ich auf Englisch zu träumen. Noch seltsamer aber war, dass ich, wenn ich mit meinen Eltern in Deutschland telefonierte, nur noch den Dialekt herausbrachte, den ich seit vielen Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Es scheint, als gäbe es eine unterste Sprachschicht, eine Art Sprache im Rückenmark, die dann zum Tragen kommt, wenn alle höheren Kontrollinstanzen versagen. Fliehen oder bleiben? Fangen oder gefangen werden? Ich frage mich, ob die Sprache, die ihm am nächsten ist, nicht die Mundart seiner Großmutter sein müsste und ob sich seine französischen Liebeslieder für ihn nicht falsch anfühlen, wenn er sie singt. Aber vielleicht hilft ihm gerade das bei der Trennung des Persönlichen vom Biografischen, auf die er so vehement besteht.
Es ist ein komisches Spiel, das die Künstler treiben! Sie geben sich ganz in ihre Kunst, und hinterher behaupten sie, dass das alles nichts mit ihrem Leben zu tun habe. Abgesehen vielleicht von ein paar Verrückten, die keine Angst davor haben, Freunde und Familie zu verletzen und zu verlieren und die ganze Welt vor den Kopf zu stoßen.
Ich habe ihn mir oft vorgestellt, diesen Moment, als Thomas Mann in seinem Gartenstuhl in Pacific Palisades den Kopf hob und in die schweigenden Gesichter seiner Familie sah. Wie er auf dem sonnigen Rasen sitzt, im weißen Anzug, mit übereinandergeschlagenen Beinen, auf dem Schoß das Manuskript. Michaels gesenkter Kopf, die Hände in die Armlehnen gekrallt, zum Sprung bereit, und Katja mit der Empörung der Großmutter in den Augen, und dieses fassungslose Schweigen in der Luft, die Fassungslosigkeit darüber, dass er es getan hat, dass er seinen Enkel, seinen geliebten Enkel, sein Engelskind, an einer Hirnhautentzündung hat sterben, nein, nicht nur sterben, sondern qualvoll zugrunde gehen lassen. Ja, Echo war eine literarische Figur. Aber eben nicht nur. Der Schriftsteller hatte sich Michaels Sohn vorgenommen und war diesem Gefühl nachgegangen, dem Gefühl, zu dem er Zugang brauchte für seinen Leverkühn, dem Gefühl des schlimmsten Verlustes. Rücksichtslos, man muss es sagen, ohne Rücksicht auf irgendjemanden, auch nicht auf sich selbst. Wie lautet des Teufels Bedingung für wahre Kunst?