Wieder näherte er sich dem runden Fenster, als ihn der durchdringende Ton eines Schiffshorns erstarren ließ. Das Horn eines anderen Schiffs. Wie es sich gehörte, antwortete die Spassky mit ihrem Signal. Gleich danach schob sich ein gewaltiges Transportschiff in hundert oder zweihundert Metern Abstand langsam am Frachter vorbei. Es war nicht das erste Schiff, das ihnen begegnete, aber das erste der U.S. Navy. US, die beiden Buchstaben ließen sein Herz höher schlagen. Er war versucht, augenblicklich aufs Deck hinaus zu rennen, wild zu gestikulieren, zu rufen, um die Boys auf sich aufmerksam zu machen, ein hoffnungsloses Unterfangen. Hilfe war so nah und doch unerreichbar. Wütend griff er zur Taschenlampe und begann, Lichtzeichen zu senden. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz, immer wieder, bis das Schiff aus seiner Heimat nicht mehr zu sehen war. Schließlich ließ er die Lampe entmutigt auf den Tisch sinken und verkroch sich auf die Pritsche.
Am Morgen des vierten Tages weckten ihn die Schmerzen in seinem Rücken. Die verkrampfte Haltung auf dem Lotterbett würde ihn umbringen, sollte er noch eine Nacht in dieser Zelle verbringen müssen. Er begriff allmählich, wie sich Lagerkoller oder Höhlenkoller anfühlte. Steif wankte er zur Toilette. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, als jemand plötzlich hart an seine Kabinentür polterte. Sein Atem stockte. Blitzschnell zog er die Toilettentür hinter sich zu. Wieder krachte es. Es hörte sich nicht wie gewöhnliches Klopfen an, eher als versuchte jemand mit schweren Stiefeln die Tür einzutreten. Seine Nackenhaare sträubten sich, als er erkannte, wie sinnlos es war, sich in diesem besseren Einbauschrank zu verstecken. Wenn sie in die Kabine kamen, würden sie ihn auf jeden Fall finden, und überdies lag sein Handy auf dem Tisch. Verfluchte Scheiße!, er konnte ihnen ebenso gut selbst die Tür öffnen. Er stieß die WC-Tür vorsichtig auf und lauschte. Das Poltern hatte aufgehört, er vernahm nur noch entferntes Wimmern. Wimmern? Eher das verhaltene Heulen eines Motors. Ein Staubsauger? Was auch immer es war, das Geräusch entfernte sich rasch und verstummte bald. Während er noch immer ungläubig auf die Tür starrte, piepste es unvermittelt in seinem Rücken. Er fuhr herum, als hätte ihn jemand angesprochen. Sein Telefon meldete sich. Die Piepser eintreffender Meldungen wollten nicht enden. Er war auf Empfang! Mit einem Satz war er beim Tisch, schnappte das Handy und wählte die Nummer seines Kollegen Ingo. Gleichzeitig holte er die GPS Applikation auf den Bildschirm und beobachtete gespannt, wie sich die Landkarte aufbaute. Nach ein paar Sekunden wusste er endlich, wo sich das Schiff befand.
»Lee, verdammt, wo zum Teufel steckst du eigentlich?«, meldete sich ein aufgebrachter Ingo. »Die ganze Welt sucht dich seit Tagen. Wir haben eine Vermisstmeldung aufgegeben. Du hast uns eine Scheißangst eingejagt. Was ist los mit dir?«
»Ingo, beruhige dich. Von wegen Scheißangst. Ich habe eine lange Geschichte zu erzählen. Ich bin im Suezkanal, auf der – hallo?« Fassungslos schaute er auf das Display: keine Antenne mehr, die Verbindung abgebrochen.
So sehr er sich bemühte, es kam kein weiteres Gespräch zustande. Stimmte seine Karte, so hatte die Spassky eben die Stadt Ismailia passiert und es konnte lange dauern bis zur nächsten brauchbaren Antenne. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er konnte nicht weiter untätig in der Kabine warten. Er musste jetzt aufs Netz, auch wenn die ganze Mannschaft auf den Beinen war. Auf einer seiner nächtlichen Wanderungen hatte er eine Kammer mit Arbeitskleidern entdeckt, wie sie die Matrosen trugen und einen der Overalls und eine Mütze mitgenommen. Jetzt schlüpfte in diesen Blaumann, setzte die Mütze auf und zog sie tief ins Gesicht. Einen besseren Tarnanzug hatte er nicht zur Verfügung. Vorsichtig arbeitete er sich die Treppen hoch zum Funkraum. Lebhaftes Schwatzen, das sich in seinen Ohren anhörte wie wüstes Schimpfen, drang aus dem Aufenthaltsraum beim Aufgang zur Brücke. Mit wenigen Sätzen durchquerte er den Korridor und verschwand im Zimmer, wo der begehrte Computer stand.
Er begann sofort, sich bei seinem Mailservice einzuloggen, doch auch diesmal wurde er unterbrochen. Eine tiefe Stimme schnauzte ihn von der Tür her an. Auch wenn er kein Wort verstand, den Ton konnte er nicht missdeuten. Der Mann, der wütend auf ihn zukam, schimpfte wie ein Rohrspatz. Zu seinem Glück war er einen Kopf kleiner. Lee baute sich geistesgegenwärtig vor ihm auf, deutete auf den Computer und fuhr ihn an: »Da, shit, da!«, und weg war er. Ohne sich weiter um die Mannschaft zu kümmern, stürmte er die Treppen hinunter, aus dem Haus aufs Deck und versteckte sich zwischen den Luken, bevor die Alarmsirenen im ganzen Schiff losgingen. Nach gut dreieinhalb Tagen hatten sie den blinden Passagier entdeckt. Sollte er aufgeben? Er hörte Männer aus dem Haus kommen. Sie schwärmten aus, und sie kannten ihr Schiff mit Sicherheit besser als er. Es konnte nicht lange gut gehen. Fieberhaft schaute er sich nach einem Ausweg um, wohl wissend, dass es keinen gab. Die Spassky war nicht sehr groß. Es würde nicht lange dauern, bis sie ihn erwischten.
Der Suezkanal war hier erstaunlich schmal. Ans Ufer schwimmen war durchaus eine Möglichkeit, aber das Deck befand sich zehn oder fünfzehn Meter über dem Wasser, keine sonderlich attraktive Aussicht. Die Männer suchten das Schiff systematisch ab, und sie kamen rasch näher. Auf der anderen Seite, backbord, sah er ein paar Fischerboote im Wasser, und plötzlich hatte er eine Idee. Er huschte geduckt zu den Kränen mit den Rettungsbooten. Er zerrte den versiegelten Schaltkasten auf und legte den Hebel um. Der Kran begann auszufahren und zerrte knarrend an der Takelage. Sofort ertönten aufgeregte Rufe. Fluchend eilten die Männer auf die Rettungsboote zu, während Lee auf der anderen Seite ungesehen über die Reling kletterte und sich auf den Buganker kauerte. Hastig ließ er sich am rostigen Metall in die Tiefe gleiten, bis er frei über dem Wasser hing. Er zögerte nur kurz, dann ließ er sich stocksteif fallen. Der Aufprall war kaum zu spüren. Sanft glitt er ins Wasser. Als er wieder auftauchte, war alles ruhig. Niemand schien ihn bemerkt zu haben. Mit wenigen kräftigen Zügen schwamm er zum nächsten Fischerboot, dessen zwei Insassen vor Schreck beinahe ins Wasser fielen, als er hinter ihnen auftauchte. Erst als sie ihn laut rufend und lachend ins Boot hievten, wurden die Männer auf der Spassky auf ihn aufmerksam, aber es war zu spät. Die freundlichen Fischer ruderten ihn rasch vom Frachter weg, zurück nach Ismailia.
Valletta, Malta
Es war ein Gefühl, als kehrte er nach langer Odyssee in den Schoss der Familie zurück, als Lee seine Kollegin Kiera in der Ankunftshalle des Malta International Airport bei Valletta erblickte. Kiera Gilly war schon seine Kommilitonin an der Uni gewesen und leitete jetzt das zweite Pilotprojekt von Disruptive Technologies auf der Mittelmeerinsel. Erst erkannte er die junge Physikerin kaum wieder, so dramatisch hatte sich ihr Äußeres verwandelt. Als ewiges Mädchen vom Lande mit Zöpfen, Röcken und Pullovern, die nur braun sein durften, flachen Schuhen und einer altmodischen Brille, die ihre zierliche, kleine Gestalt zu erdrücken schien, so hatte er sie in Erinnerung. Man konnte sie sich damals sehr gut in der Enge eines verstaubten Antiquariats vorstellen, keinesfalls in einem Hightech Labor.
Aber der Schein trog. Kiera war einer der brillantesten Köpfe, die er kannte. Nebenbei hatte sie auch noch in theoretischer Physik abgeschlossen, mit einer Arbeit über Quanten-Chromodynamik, als müsste sie irgendwie die Zeit totschlagen. Dieses damals so unscheinbare Genie empfing ihn nun als strahlende Geschäftsfrau in weißer Bluse und weißem Jupe. Die Brille war verschwunden, die strengen Zöpfe hatten sich in einen lockeren Pferdeschwanz verwandelt und die Füße steckten in zierlichen, roten Spangenschuhen, die sie mit Sicherheit fünf Zentimeter größer machten.
»Und darin kannst du laufen?«, war das Intelligenteste, was ihm zur Begrüßung einfiel.
»Charmant wie immer«, lachte sie. »Soll ich dir mit dem Gepäck helfen?«
»Sehr witzig.« Sein Reisegepäck