Andererseits machte Brzozowski deutlich, dass angesichts der neuen gesellschaftlichen Herausforderungen die positivistischen Ansätze nicht mehr ausreichten, da eine sofortige und radikale Emanzipation der Arbeiterklasse nötig sei. Die Autor:innen des „Jungen Polens“ waren wenigstens dazu imstande das Ausmaß des Problems zu begreifen, indem sie die moderne Entfremdungs- und Entzauberungsproblematik thematisierten. Insbesondere das Werk von Stanisław Przybyszewski (1868–1927) wird von Brzozowski vor diesem Hintergrund interpretiert („Der Mensch fühlt sich dem Leben gegenüber machtlos, ist nicht imstande, sich mit ihm zu verknüpfen…“, S. 56). Mit dem einsetzenden Unbehagen im Zuge der Jahrhundertwende und dem Untergang der Adelsschicht (da der polnische Adel [szlachta] sein Machtpotential in der Kulturschöpfung verlor) ließ sich ein Aufstieg des Proletariats beobachten, der Brzozowski zufolge am besten durch den Verlauf der Revolution von 1905 illustriert wurde.
Die Revolution von 1905 bis 1907 umfasste eine Welle politischer und sozialer Unruhen (insbesondere Arbeiterstreiks) im russischen Raum, infolge derer es zu einer gewissen Liberalisierung des politischen Lebens kam (u. a. Einrichtung des Mehrparteiensystems). In den polnischen Gebieten forderten die Demonstrant:innen sowohl die Verbesserung der Arbeitsbedingungen als auch politische Freiheiten. Eines der wichtigsten Zentren der revolutionären Kämpfe war die Industriestadt Lodz (Łódź), in der im Juni 1905 ein Arbeiteraufstand ausbrach. Aus Brzozowskis Perspektive stellte diese Revolution die Kraft und die geschichtliche Reife des polnischen Proletariats unter Beweis – der einzigen polnischen Bevölkerungsschicht, die gegen das reaktionäre, von internationalem Großkapital und der Bourgeoisie unterstützte Zarentum Widerstand leisten konnte. Er betont dabei mehrfach, dass das Proletariat nicht nur über eine zielbewusste politische Orientierung und Integrität verfüge, sondern auch eine „nationale Selbstständigkeit“, weswegen es außerhalb des polnischen Proletariats „keine nationalen Formen des Denkens, Fühlens und Wollens“ (S. 49) geben könne. Eine solche Überzeugung, dass zwischen dem Streben nach einem selbstbestimmten Nationalstaat und dem Postulat des Sozialismus kein Widerspruch bestünde und die Arbeiterklasse auch in der Sphäre der Nationsbildung eine entscheidende Rolle zu spielen habe, war im damaligen Europa keine Seltenheit: In jener Zeit entstanden mehrere Bewegungen und Parteien, wie die marxistisch-zionistische Poale Zion (‚Arbeiter des Zions‘) oder die irische republikanische Sinn Féin (‚Wir selbst‘). Unter den polnischen Sozialist:innen aus dem Milieu der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna, PPS), mit der Brzozowski damals sympathisierte, spielte das Erbe der polnischen Romantik eine wichtige Rolle, insofern sie das ‚Polentum‘ eng mit der Emanzipation der unteren Schichten, der internationalen Solidarität (‚Brüderlichkeit der Völker‘, braterstwo ludów) und dem Respekt für ‚den Anderen‘ verknüpften. (Die PPS selbst wurde von fünf Personen gegründet, von denen zwei polnische Tataren waren). Ein so verstandenes, politisches ‚Polentum‘ unterschied sich diametral von jenem ‚Polentum‘, wie es von Seiten der polnischen Nationalen Demokratie (Narodowa Demokracja, ND) definiert wurde. Der ND zufolge war das ‚Polentum‘ in erster Linie kulturell-ethnisch zu begreifen, weswegen es mit anderen Ethnien und Kulturen konkurrieren musste und einer ständigen Bedrohung durch Einflüsse ‚stärkerer‘ Nationen (insbesondere der deutschen) ausgesetzt war. Die ‚Anderen‘ (Deutsche, Juden, Ukrainer, usw.) wurden insofern als Konkurrenz angesehen. Die ND verkörperte während der Revolution 1905–1907 für Brzozowski alles, wogegen er sich zu jener Zeit in seiner Publizistik wandte: einen an Zynismus grenzenden politischen Realismus, die reaktionäre Allianz zwischen dem Zarentum, dem Großkapital, dem Adel und Bürgertum und den evident chauvinistischen Nationalismus.
Vor diesem Hintergrund ist der leidenschaftliche Presseartikel DIE MENSCHHEIT UND DAS VOLK aus dem Jahre 1907 zu lesen, in dem Brzozowski das sozialistische civitas hominum und das selbstständige, „arbeitende Polen“ als sich gegenseitig ergänzende Konzepte darstellt. Die Bedingung hierfür wäre jedoch den spießigen Nationalismus der ND abzulehnen und stattdessen zu begreifen, dass von einem sozialistischen Gesamtkonzept (d. h. einer Leistung für die Menschheit insgesamt) auch Polen profitieren würde. Der Ausdruck ‚Arbeit‘ wird von Brzozowski polysem verwendet, einerseits in Bezug auf das Proletariat und die Rolle der Arbeiter:innen in der Revolution, andererseits bezogen auf die eigene, intellektuelle und geistige Entwicklung, die in der revolutionären Situation viel Mühe und innere Integrität abverlangte.
Denkt ihr, dass Polen in der Adelstracht inmitten eines modernen Europas bestehen kann, dass ihm als einziger Inhalt „der Name Marias“, der Hochmut der Unwissenheit, die beschränkte Selbstsucht und das träge gewordene Sentiment genügen werden? Die nationale Kraft als Besonderheit zu züchten heißt, den polnischen Krähwinkel und die polnischen Provinznester zum Ideal zu erheben, wo jeder unter dem Schleier der häuslichen Tugenden verlebte Tag ein Mord am eigenen Gedanken, an der eigenen menschlichen Würde ist! […]
Ihr Jungen, ihr Starken, ihr Kühnen, ihr, denen die Geschichte die schönste Gabe bereitet hat: ein Leben voller Arbeit, […] glaubt nur euch selbst, nur dem eigenen Gefühl, dass der Mensch kein Sklave sein darf; kämpft, arbeitet und schafft eine Zukunft trotz alledem, trotz der Heuchelei, der Halbheit, der Gleichgültigkeit und des Skeptizismus der erkalteten Herzen. Habt den Mut, Menschen zu sein und für den Menschen in Polen zu arbeiten. (S. 76)
Trotz des pathetischen Stils unterscheidet sich Brzozowski hier kaum merklich von anderen Autor:innen der engagierten polnischen Intelligenz der Jahrhundertwende; die ‚Denkfaulheit‘ und ‚Sentimentalität‘ der polnischen Gesellschaft wurden oftmals auch in den Veröffentlichungen der ND kritisiert (allerdings aus einer anderen, nicht-sozialistischen Perspektive). Solche Ratschläge, wie Brzozowskis: „sorgt dafür, dass die polnische Sprache eine Sprache der Wissenschaft, des unabhängigen Gedankens und der sich befreienden Arbeit sei“ (S. 71), stehen insofern in der damaligen intellektuellen Tradition. Bolesław Prus schrieb in einer Kolumne im Jahre 1897:
Wer also versuchen würde, patriotische Gefühle zu wecken oder auch nur zu verstärken, wäre wie ein Mann, der versuchen würde, den Ozean mit Wasser aus einem Brunnen aufzufüllen. […] [N]ach meiner persönlichen Überzeugung – bezeichnet das Wort ‚Pole‘ eine Spezies, wie die Wörter: Kiefer, Weide, Spatz, Biene und so weiter. An einer Kiefer zu arbeiten, um sie zu einer Kiefer zu machen, oder an einem Spatz, um ihn zu einem Spatz zu machen, ist genauso unsinnig, wie z. B. aus einer Kiefer eine Tanne machen zu wollen oder einen Spatz in einen Stieglitz verwandeln zu wollen. Es erscheint hingegen sinnhaft, an einer Tanne und an einem Spatzen zu arbeiten, sodass jeder von ihnen in seiner Art die höchste Vollkommenheit erreicht. Das aber ist nicht die Sache des Patriotismus, sondern der Zivilisation...13
Obwohl der naive Patriotismus von der polnischen Intelligenz mit Skepsis betrachtet wurde, erschien die Idee eines konsequenten Kosmopolitismus nur wenigen Autor:innen und Aktivist:innen verlockend. Der sozialistische Internationalismus, postuliert von der wichtigsten Konkurrenzpartei der PPS, der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy, SDKPiL), wurde als ein trockener, ökonomischer Dogmatismus angesehen, der die komplizierte national-ethnisch-konfessionelle Vielfalt Ost- und Mitteleuropas ignoriere und auf Identitäten bezogene Diskriminierungsprobleme übersehe (beispielsweise die Verfolgung ethnischer Minderheiten). Die SDKPiL sollte all jene nicht-ökonomischen Faktoren missachtet haben, die für das gesellschaftliche Funktionieren wesentlich seien: regionale geschichtliche Bedingtheiten, die Bedeutung lokaler Sprachen, das Verständnis von Genderrollen.14 Brzozowski selbst warf der SDKPiL (insbesondere ihrer bekanntesten Aktivistin Rosa Luxemburg) eine Vulgarisierung des Marxismus vor; sie habe eine feine Theorie auf eine Ideologie des ökonomischen Automatismus reduziert, die sogar dazu bereit sei harte Fakten zu missachten, wenn diese ihren theoretischen Hauptannahmen