Ein paar Tage später gibt es ein neues Schauspiel. Es schneit. Die Wiese sieht von fern bereift aus. Kleine, lichtweiße Kelchblätter lösen sich, segeln lautlos herab, alle Gartenpflanzen sind weiß gefleckt, Gänseblümchen, Tulpen und Osterglocken spielen Karneval, frischgestutzte Rosenstöcke sehen aus wie Harlekine, der Buddelkasten hat eine Spitzendecke aus Blüten bekommen. Tagelang gleiten die Kirschblüten friedlich auf Grashalme, Beete, Wege, Buddelsand und Menschenköpfe.
Im Mai kann, wer gute Augen hat, schon spärliche, länglich geformte grüne Knubbel an den Stielbüscheln entdecken. Und im Juni sind diese unscheinbaren Verdickungen zu kugelrunden Früchten herangewachsen. Nun erst zeigt sich, dass man hier zwei ganz verschiedene Kirschbäume vor sich hat. Der vordere bringt glänzend dunkelrote, fast schwarze Knupperkirschen hervor, der hintere hellrote. Die Kirschen werden dicker und dicker, leuchten in der Sonne, die Zweige beginnen sich nach unten zu biegen. Und nun, als hätte jemand ein weithin hörbares Signal gegeben, stürzt sich alles, was Flügel, Schnabel und Krallen hat, in die Kronen. Stare, Meisen, Spatzen, Eichelhäher, Krähen, Amseln, Elstern und natürlich auch das Eichhörnchen. Alle wollen sie mal kurz nachschauen, ob es schon so weit ist. Ob die Kirschen schon süß genug, knackig genug, saftig genug sind. Zu diesem Zweck müssen sie natürlich die eine oder andere anpicken. Oder sie herunterschmeißen. Oder von ihr abbeißen.
Ich rufe Freunde an, vermelde, dass die Kirschen reif sind. Sie kommen, mit Eimern, Spankörben und Schüsseln, stellen Leitern an den Stamm, steigen hinauf, klettern in die Äste, mit nackten Füßen. Die Sonne scheint, die Menschen schwitzen, mit einem Arm umklammern sie einen dicken Ast, halten sich in schwindelerregenden Höhen, die andere Hand greift nach einem Kirschbündel. Sie werden zu Zirkuskünstlern, balancieren, lachen und pflücken, Schweiß tropft von Stirnen, Eimer und Körbe füllen sich rot.
Die Bäume werden leichter und leerer. Können ihre Arme endlich wieder aufrichten und in den Himmel recken. Es ist, als würden sie seufzen vor Erleichterung.
Abends, wenn es still geworden ist im Garten, gehe ich noch einmal zu meinen Kirschbäumen.
Wie ein altes Ehepaar kommen sie mir vor, als hielten sie sich an den Händen mit ihren Zweigen, die sich nun wieder berühren. Sie stehen so friedlich nebeneinander. Einer von ihnen, denke ich, wird vor dem anderen sterben. Sicher der hintere, dessen Stamm schon von Pilzen übersät ist. Wie es dann wohl dem anderen geht? Ob sein Partner ihm fehlen wird?
Aber das kann noch lange dauern. Eine Weile bleiben sie sicher noch.
Voller Dankbarkeit lege ich meine Hand auf den Stamm. Ich stelle mir vor, wie jemand in schlimmen Zeiten froh war, dass es diese Bäume gab. Im zweiten Weltkrieg standen sie schon hier. Welch ein Symbol der Hoffnung und des Lebens müssen sie gewesen sein in ihrer blühenden Pracht im April ‘45, kurz vor Kriegsende. Welch ein Trost einige Monate später ihre Speise. Und erst im Hungerjahr 1946. Manch einer wird geweint haben vor Glück, als er sie entdeckte. Einmal satt essen. Vielleicht hat einer von diesen Menschen damals auch seine Hand an den Stamm gelegt, so wie ich jetzt, als wolle er sich bedanken.
Wenn die Vögel begriffen haben, dass die Äste für dieses Jahr leer sind, fliegen sie zu anderen Bäumen. Dann kehrt Ruhe ein in den Kronen. Dann können meine Kirschbäume die Augen schließen und Kraft sammeln für die kalte Zeit.
Meisenpost
Natürlich bekomme ich im Garten keine Post. Dass ein Briefkasten mit meinem Namen am Zaun hängt, hat rein romantische Gründe. Briefkästen in der heutigen Zeit haben etwas zutiefst Romantisches.
Bei der Sanierung unseres Mietshauses wurden unter anderem alle alten Briefkästen entfernt, die sich im Laufe der Jahre zu echten Individuen entwickelt hatten. Selbstgeschriebene Namensschilder, diverse Aufkleber (von „Atomkraft – Nein danke!“ über „Hier nur Liebesbriefe!“ bis „Keine Werbung – Lasst die Bäume leben!“), persönliche Nachrichten an den Postboten, verrostete oder verbogene Türen und mehrere neue Farbanstriche hatten ihnen ein unverwechselbares Flair verliehen. Es kam mich das kalte Grausen an, als ich fortan im Hausflur von den neuen, seelenlosen und einheitsbeschrifteten Edelstahlkästen empfangen wurde.
Die alten waren lieblos auf einen Schuttberg geworfen worden. Ich brachte es nicht übers Herz, meinen dort liegen zu lassen. Ihn, der über so viele Jahre Erwartung, Hoffnung, Sehnsucht, Freude und Trauer zu mir getragen und mir so viel liebe Post beschert hatte. Als ich ihn zwischen Putzbrocken und Ziegelschutt liegen sah, musste ich ihn einfach mitnehmen. Ich trug ihn in den Garten und hängte ihn an den Zaun.
Das war Anfang März.
Zum Ende des Monats begann mein Hund, sein Winterfell abzuwerfen. Diese Prozedur dauert in der Regel drei Wochen, in denen der Wind dicke weiße Hundefellflocken über Grashalme und Gänseblümchen treibt.
Eines Morgens, als ich gerade beim Kaffee saß, erblickte ich einen merkwürdigen Vogel. Er hüpfte über die Wiese, pickte etwas auf, hatte einen unförmigen weißen Kopf und im Vergleich dazu einen schmächtigen kleinen Körper mit auffallend gelbem Bauch, der an eine Kohlmeise erinnerte. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich tatsächlich um eine solche handelte. Sie stopfte sich Hundehaarbüschel um Hundehaarbüschel in den Schnabel, bis sie aussah, als wüchsen ihr rechts und links riesige Bärte aus dem Kopf. Als ich befürchtete, sie würde jeden Moment an dem Haargewirr ersticken, setzte sie zum Flug an. Neugierig verfolgte ich sie mit den Augen und staunte nicht schlecht, als sie im Schlitz meines alten Briefkastens verschwand.
Gleich setzte ich mich so, dass ich Wiese und Briefkasten bequem im Auge hatte. Und wirklich: binnen Kurzem kam sie – jetzt eindeutig eine Kohlmeise – ohne Haare wieder aus dem Schlitz heraus, flog erneut zur Wiese, legte sich zwei neue Bärte zu und verschwand wieder im Briefkasten.
Dieses Treiben dauerte drei Wochen lang, genau so lange, wie mein Hund sein reichlich fallendes Winterfell im Garten verteilte. In dieser Zeit bastelte ich ein Schild mit der Aufschrift: „Keine Post einwerfen! Brütende Meise!“ und klebte es an den Kasten, als die Meise gerade auf der Wiese zu tun hatte.
Warten, Hoffen und Wünschen, diese schwierigen Geduldsübungen, die einem Briefkasten gut anstehen, lohnten sich auch diesmal. Schon Mitte April begann die Meise zu brüten, ich konnte deutlich beobachten, wie sie fleißig von ihrem Männchen gefüttert wurde. Anfang Mai flogen dann plötzlich zwei erwachsene Meisen unermüdlich hin und her, Mutter und Vater, und stopften Samen, Insekten, Larven, Spinnen und kleine Schnecken durch den Briefschlitz. (Kluge Menschen haben ausgerechnet, dass ein Meisenpaar und seine Nachkommen in einem einzigen Sommer über fünfundzwanzig Kilogramm Insekten und Kleintiere vertilgen! Falls sie nur einmal brüten. Oft brüten sie aber im Juni ein zweites Mal.)
Drei Wochen später, an einem schönen Mai-Vormittag, war es dann soweit: Die Kinder sollten fliegen lernen. Ich wurde Zeuge, wie Mutter Meise versuchte, sie aus dem Briefkasten herauszulocken. Offenbar machte es den jungen Meisen ziemliche Mühe, von innen durch den schmalen Schlitz zu rutschen und dabei gleichzeitig die Flügelchen zum Flug auszubreiten. Die Mutter hüpfte und lockte, flog immer wieder zwischen dem Briefkasten und einem nahen Pfirsichast hin und her, und schließlich gelang es dem ersten Jungvogel, ihr zu folgen. Nach einem heroischen Schlenker landete er auf der Wiese. Nun trauten sich auch die anderen. Es waren sechs.
In den nächsten Wochen staunte ich über die unendliche Geduld der Eltern, die, obwohl nach der Anstrengung des Brütens und Fütterns sicher arg erschöpft, in einem fort Nahrung in aufgerissene Schnäbel stopften. Und das, obwohl – wie ich genau sehen konnte! – die Kleinen, die bald ebenso groß waren wie ihre Eltern, durchaus schon selbst fressen konnten! Dies taten sie allerdings nur, solange Mutter und Vater unterwegs waren, um Futter heranzuschaffen. Dann pickten sie fröhlich herum, fanden auch schon dies und das, kaum aber kamen die Eltern in Sichtweite, begannen sie herzzerreißend zu betteln, rissen die Schnäbel auf, schrien erbärmlich, zitterten mit den gespreizten Flügeln und verfolgen ihre Eltern