Eher selten wird der Entschluss zur Pflege bewusst gefällt, insbesondere wenn sich Pflegebedürftigkeit schleichend entwickelt. Geht es zunächst nur darum, häufiger als früher nach dem Rechten zu sehen oder Einkäufe zu erledigen, entwickelt sich allmählich ein immer umfassenderer Hilfebedarf bis hin zur Unterstützung beim Waschen, Anziehen oder Toilettengängen. Aber auch bei plötzlicher Pflegebedürftigkeit, z. B. bedingt durch einen Schlaganfall, ist die Übernahme der Pflege oftmals keine bewusste Entscheidung, vielmehr werden Angehörige mit der neuen Aufgabe förmlich überrumpelt. Unter Umständen liegt in dieser fehlenden Entscheidungsfreiheit bereits ein gewichtiger Faktor für die Schwere der empfundenen Belastung durch die Pflege.
1.2 Belastungen von pflegenden Angehörigen
Die Übernahme der Pflege einer nahestehenden Person geht für die Angehörigen mit zahlreichen Herausforderungen einher, die sowohl positiv als auch negativ empfunden werden können. Zahlreiche Untersuchungen zeigen auf, dass es sich bei den pflegenden Angehörigen um eine vulnerable Personengruppe handelt, die vielfältigen Belastungen ausgesetzt ist (u. a. Rothgang & Müller 2018; Gräßel & Behrndt 2016; Rothgang et al. 2015). Zu den hauptsächlichen Belastungsfaktoren gehören:
• Zeitliche Belastung: Die Versorgung eines Pflegebedürftigkeiten ist häufig ein Full-Time-Job: Durchschnittlich 37,5 Stunden pro Woche werden für Hilfe, Pflege und Betreuung aufgewendet (BMG 2011). Viele pflegende Angehörige stehen in permanenter Einsatzbereitschaft rund um die Uhr zur Verfügung. Äußerst belastend ist es, wenn regelmäßig die Nachtruhe gestört wird und die Zeit für eine nachhaltige Regeneration fehlt.
• Gesundheitliche Belastung: Da – wie bereits angesprochen – ein Großteil der Hauptpflegepersonen 50 Jahre und älter ist, liegen in vielen Fällen bereits eigene gesundheitliche Beschwerden vor. Pflegebedingt kommen u. U. physische und psychische Beschwerden wie Rückenschmerzen, Herz- und Magenbeschwerden, Schlafstörungen, Erschöpfung, Burnout und Depressionen hinzu. Pflegende Angehörige sind häufiger und länger krank als andere Menschen (Billinger 2011), so dass häusliche Pflege durchaus als Gesundheitsrisiko bezeichnet werden kann. Trotz dieser Erkenntnis gibt es bislang kaum gezielte Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung für pflegende Angehörige.
• Emotionale Belastung: Der körperliche und geistige Abbau eines Familienmitglieds ist für viele Angehörige schwer zu ertragen. Sich unausweichlich verschlechternde Krankheitszustände lösen Gefühle der Hilflosigkeit und Trauer aus. Besonders hoch ist die Belastung, wenn bei der pflegebedürftigen Person eine dementielle Erkrankung vorliegt und es zu Veränderungen der Persönlichkeit und einer zunehmenden Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten kommt. Sie erhöhen bei den betroffenen Angehörigen im Vergleich zu Angehörigen, die eine Person ohne dementielle Erkrankung pflegen, das Risiko für eigene psychosomatische Beschwerden (
• Soziale Belastung: Pflegende Angehörige haben oftmals wenig bis gar keine Zeit, um soziale Kontakte zu pflegen, Hobbys aktiv auszuüben oder gar Urlaub zu machen. Spontane Besuche bei Freunden sind nicht mehr möglich. Einladungen können nicht wahrgenommen werden, wenn niemand anderes zur Verfügung steht, der sich in dieser Zeit um die pflegebedürftige Person kümmert. Soziale Isolierung und Spannungen im Familienleben können die Folge sein.
Hinzu kommt mitunter auch eine finanzielle Belastung, wenn beispielsweise Angehörige aufgrund der Anforderungen der Pflege ihre Berufstätigkeit reduzieren oder ganz aufgeben müssen.
Tab. 2: Ausmaß der subjektiven Belastung bei Demenz bzw. Nicht-Demenz (Gräßel & Behrndt 2016, S. 175)
Ausmaß der subjektiven Belastungbei Demenz der pflegebedürftigen Personbei Nicht-Demenz der pflegebedürftigen PersonRisiko für psychosomatische körperliche Beschwerden
77 % der Hauptpflegepersonen empfinden die Belastungen der Pflege als eher stark bis sehr stark (BMG 2011). Wie bereits erwähnt, wird die Belastung als besonders hoch empfunden, wenn es sich bei dem zu Pflegenden um einen demenziell erkrankten Menschen handelt. Hier zeigt sich, dass pflegende Angehörige keineswegs eine homogene Gruppe mit gleich empfundener Belastung und ähnlichen Unterstützungserfordernissen bilden. Vorliegende Erkenntnisse legen vielmehr nahe, ein differenziertes Bild dieser Zielgruppe zu entwickeln und Unterkategorien zu bilden, die sich z. B. auf das Verwandtschaftsverhältnis zwischen der pflegenden und der pflegebedürftigen Person oder die Art der gesundheitlichen Beeinträchtigung des Pflegebedürftigen beziehen. So haben beispielsweise Eltern, die ein behindertes Kind pflegen, andere Belastungen und Unterstützungsbedürfnisse als ein Ehemann mittleren Alters, der sich um seine schwer krebskranke Ehefrau kümmert oder eine Tochter, die ihren demenzkranken Vater versorgt. Auch berufstätige pflegende Angehörige unterscheiden sich in ihrer Belastungsituation von Angehörigen, die sich bereits in der nachberuflichen Phase befinden (Seidl & Voss 2020).
Pflegende Angehörige sind keine homogene Gruppe!
Sie lassen sich charakterisieren …
• … anhand soziodemografischer Merkmale (Alter, Geschlecht).
• … durch Beschreibung der (Verwandtschafts-)Beziehung zur pflegebedürftigen Person.
• … bezogen auf die gesundheitliche Beeinträchtigung der pflegebedürftigen Person.
• … bezogen auf Umfang, Dauer und Phase der Pflegesituation.
• … bezogen auf Bildungsgrad, Herkunft, Lebenssituation und sozio-ökonomischen Status.
• … bezogen auf die räumliche Entfernung zur pflegebedürftigen Person.
Eine bislang wenig beachtete Gruppe pflegender Angehöriger sind die sogenannten distance caregiver, die Hilfe und Unterstützung aus der Ferne leisten. Bedingt durch ihre berufliche Tätigkeit leben erwachsene Kinder heutzutage oftmals in erheblicher geografischer Entfernung von den Eltern. Gleichwohl haben sie den Wunsch, sich im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit um die Eltern zu kümmern. Auch wenn sie keine unmittelbare pflegerische Tätigkeit vor Ort leisten können, so tragen sie dennoch Sorge für ein gelingendes Pflegearrangement, indem sie die Versorgung organisieren und koordinieren. Sie kommunizieren mit dem Pflegedienst und dem Hausarzt/der Hausärztin, organisieren den Mahlzeitendienst und eine Reinigungshilfe, leisten emotionale Unterstützung durch regelmäßige Anrufe, erinnern die Eltern telefonisch