Aber welche rechtliche Bedeutung kommt den Nationalen Expertenstandards zu? Zwar haben sie keinen unmittelbar bindenden Charakter, da ihr Status nicht dem eines Gesetzes oder einer Verordnung entspricht. Gleichwohl gibt ein Expertenstandard ein rechtlich hohes Verbindlichkeitsniveau vor, indem er als so genanntes »vorweggenommenes Gutachten« anzusehen ist (Böhme 2000; Schröder 2003). Kommt es beispielsweise aufgrund eines Dekubitus zu einem Streitfall vor Gericht, so wird der Richter die Erstellung eines Sachverständigengutachtens in Auftrag geben. Das Gutachten prüft, inwieweit die von der pflegenden Einrichtung angewandten Prophylaxemaßnahmen dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprochen haben. An dieser Stelle kommt nun der Expertenstandard Dekubitusprophylaxe zum Tragen. Da er auf der Grundlage aktueller Literatur und gesicherter Forschungsergebnisse entwickelt wurde, repräsentiert er den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Tatsächlich wurde auch bereits in mehreren Urteilen des Bundessozialgerichts auf den Expertenstandard Dekubitusprophylaxe Bezug genommen.
Zusammenfassung
Betrachtet man die Inhalte dieses Kapitels, so erstaunt es nahezu, in wie vielen gesetzlichen Regelungen sowie pflegewissenschaftlich entwickelten Standards Aussagen zur Beratung und Schulung pflegender Angehöriger vorzufinden sind. Insbesondere mit Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes sowie der Einführung nationaler Expertenstandards wurde für die professionelle Pflege ein breites pädagogisches Handlungsfeld geschaffen. Bislang kommt die Pflegepraxis diesen Aufgaben immer noch nicht in adäquater Weise nach – dies dürfte sich in den kommenden Jahren jedoch ändern.
3 Bausteine der Kompetenzförderung
Eine Unterstützung pflegender Angehöriger durch die professionelle Pflege kann mittels verschiedener pädagogisch geleiteter Interaktionen erreicht werden. Dazu gehören Information, Schulung, Anleitung sowie Beratung. Eine einheitliche Bezeichnung für diese Maßnahmen lässt sich in der Fachliteratur nicht finden. Als Überbegriff findet sich der Terminus der »Patientenedukation«. Hierunter wird ein gezielter und geplanter Lernprozess verstanden, in dem sowohl informierende, beratende, unterweisende als auch verhaltensorientierte Verfahren zur Anwendung kommen (Ewers 2001). Allerdings ist der Begriff hierzulande umstritten. Aus dem Englischen kommend (patient education) wird er hierzulande mit »Patientenerziehung« verbunden, während er international als »Bildung« verstanden wird. Der Erziehungsbegriff erweist sich in Deutschland jedoch als problematisch, da er oftmals mit schulischer Erziehung und weniger mit Erwachsenenbildung assoziiert wird. Zudem wird mit dem Begriff lediglich die Betroffenenperspektive – der Patient bzw. die Patientin – berücksichtigt und das familiäre Umfeld außer Acht gelassen. Eine Lösung liegt darin, von Patienten- und Familienedukation zu sprechen, wie es inzwischen vermehrt geschieht (Schieron et al. 2021; Abt-Zegelin 2003).
In diesem Buch soll der Oberbegriff Maßnahmen der Kompetenzförderung pflegender Angehöriger Verwendung finden, da sich hierin das gemeinsame Ziel der verschiedenen pädagogisch geleiteten Interaktionen widerspiegelt. Sowohl Information als auch Anleitung, Schulung und Beratung dienen u. a. dazu, die Selbstbestimmung und (Pflege-)Kompetenz von Angehörigen zu stärken, um die Herausforderungen im Alltag mit einem pflegebedürftigen Menschen auf Dauer meistern zu können.
In der Praxis greifen die verschiedenen Maßnahmen häufig ineinander und sind nicht klar voneinander abzugrenzen, so dass die Trennung in die verschiedenen Formen an dieser Stelle zunächst befremdlich und künstlich erscheinen mag. Allen Maßnahmen gemeinsam ist das kommunikative Element. Schaeffer und Dewe (2006, S. 129) beschreiben sie als »kommunikative Interventionsstrategien«, die auf dem Austausch von Information, Wissen, Erfahrung, Gedanken und Gefühlen beruhen. Sie erfolgen über Sprache, Mimik, Gestik, Bilder und andere Zeichen, und lassen sich in direkte (d. h. personale) und indirekte (d. h. mediale) Kommunikation unterscheiden.
Den verschiedenen Maßnahmen liegt allerdings eine jeweils eigene Handlungslogik zugrunde (Schaeffer & Dewe 2006), die Pflegenden im Alltag bewusst sein sollte (
Tab. 4: Merkmale von Information, Schulung, Anleitung und Beratung (vgl. Schneider 2002; Schaeffer & Dewe 2006; Oelke 2007)
InformationSchulungAnleitungBeratung
Im Folgenden soll zunächst der Versuch einer Begriffsbestimmung der verschiedenen Bausteine der Kompetenzförderung vorgenommen und damit das diesem Buch zugrunde liegende Verständnis von Information, Schulung, Anleitung und Beratung sichtbar gemacht werden.
3.1 Kompetenzförderung durch Information
Unter Information wird die Bereitstellung und Vermittlung von Daten, Fakten, Wissen und Kenntnissen verstanden (Schaeffer & Dewe 2006; Oelke 2007; Wingenfeld 2011). Ziel der Informationsvermittlung ist es, beim Empfänger eine Wissenslücke zu schließen bzw. zur Erweiterung seines Wissens beizutragen. Dabei wird die Weitergabe von Informationen als ergebnisoffenes Angebot verstanden, von dem der Nutzer entsprechend seiner Bedürfnisse Gebrauch machen kann. Wie die Informationen aufgenommen, verarbeitet und umgesetzt werden, kann nicht festgestellt werden.
Beispiel für Informationsvermittlung
Eine Anruferin erkundigt sich in der Pflegeberatungsstelle nach der Höhe der Geldleistung beim Pflegegrad 2. Die zuständige Fachperson teilt die gewünschte Information mit und fragt nach, ob sie noch anderweitig helfen könne. Die Anruferin verneint dies, bedankt sich und legt auf.
Hier hat die Informationsvermittlung den Charakter einer Auskunft. Es bleibt unklar, warum die Anruferin die Information wünscht, für wen sie sie einholt (für sich selbst, einen Familienangehörigen oder die Nachbarin), ob sie die Auskunft überhaupt nutzen wird und wenn ja, in welcher Weise. Ihr Informationsbedürfnis wurde jedoch