Trost der Physik. Harald Lesch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Harald Lesch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783831257386
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an!“ Ich gucke mich jetzt hier auch mal um. Was ist denn alles da? Hier direkt um mich herum Wasser und Luft, direkt unter mir etwas Festes, und hierher gebracht hat mich das Feuer in der Maschine. Mit diesen vier Elementen hat ja die ganze Geschichte des abenländischen Denkens begonnen. Wie hießen die denn? Thales, klar. Das war ja der mit dem Wasser, aber die anderen? Das macht mich ganz rappelig.

      Nein, ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen, jetzt wird erst mal gezählt. Bitte jetzt keine philosophischen Ausflüge nach Kleinasien oder in die Inselwelt der Ägäis. Oder vielleicht doch? Kein Wunder, wie wundervoll die über ihre vier Elemente nachdenken konnten: da unten herrscht ja schönstes Wetter, prima Essen, und selbst wenn du schiffbrichst, siehst du doch irgendwann eine Küste, und wenn du Glück hast, begrüßt dich eine nette junge Griechin.

      Homer, lass mich doch mal in Ruhe zählen, und quäle mich nicht mit diesem gerissenen Odysseus, auf den offenbar jede Frau des Mittelmeeres stand.

      Thales, Anaximenes, Heraklit, Empedokles, jetzt habe ich Euch, meine lieben Freunde bitte verschwindet, ich muss zu den Atomen. Auch so eine griechische Erfindung, aber geglaubt hat sie keiner so richtig. Dabei drückte sich Demokrit sehr verständlich aus: Es gibt nur die Atome und das Nichts, der glasklarste Materialist ohne Wenn und Aber. Vielleicht haben deshalb seine Atome über 2000 Jahre gebraucht, bis sie wirklich gebraucht wurden, die kleinen Racker.

      Dabei ist es vermutlich die größte und wichtigste Idee der Menschheit überhaupt: Die Welt besteht aus Atomen. Weil wir das wissen, können wir die Welt manipulieren, können aus ihr das machen, was wir wollen. Jede moderne Maschine, auch die, die da mit mir abgestürzt ist, die gibt es nur, die funktioniert nur – naja nicht immer – weil wir wissen, dass das Material aus Atomen besteht. Material und Mater, ob das zusammenhängt? Die Mutter aller Dinge.

      Es gibt 92 stabile Atomarten, schön im Periodensystem der Elemente zusammengestellt, jaja so einen Bart hatte der Mendelejew, der hat sich das nämlich so ausgedacht. Nee, nicht ausgedacht, sondern überlegt, also nicht das mit den Atomen, sondern mit dem Periodensystem.

      Ruhe jetzt, wenn ich schon beim System in Gedankenpanik gerate, wie will ich denn da Inventur machen. Wo war ich? Ach ja, bei den Atomen. Die bestehen aus Atomkernen, also genauer aus sehr kleinen Atomkernen. Apropos Kern, wenn ein Atom so groß wäre wie ein Kathedrale, dann wäre der zugehörige Atomkern so groß wie ein Kirschkern.

      Umrundet oder besser umschwirrt werden die Atomkerne von Elektronen.

      Atomkerne bestehen aus positiv geladenen Protonen und aus elektrisch neutralen Neutronen. Beide sind knapp 2000 Mal schwerer als die Elektronen und die Neutronen sind etwas schwerer als die Protonen und alle Kernbausteine. Die nennt man Nukleonen, ein griechisches Wort. Sie bestehen aus up und down Quarks, das kommt aus dem Englischen. Großartig, jetzt habe ich mich richtig eingegroovt.

      Die Struktur der Materie, das ist das Hoheitsgebiet der Physik. Hier wird seit über hundert Jahren erfolgreich geforscht. Man weiß sehr genau, aus was die Welt besteht, und vor allem weiß man, warum sie aus so vielen verschiedenen Materialien besteht. Weil sich die Atome miteinander zu Molekülen verbinden. Die ganze Welt um mich herum, alles Moleküle.

      Wasser, auch dieses wunderbare französische hier, ist eine Verbindung von zwei Wasserstoffatomen mit einem Sauerstoffatom. Warum ist die Verbindung zweier Gase flüssig? Ich könnte mir das jetzt beantworten, aber ich tue es nicht. Ich mache Inventur.

      Die Luft, die ich einatme, Moleküle. Ich bestehe auch nur aus Molekülen – und was für welchen! Und das Allergrößte ist: Die sind gar nicht von der Erde, diese ganzen Stoffe kommen von den Sternen, wir Menschen bestehen zu 92 Prozent aus Sternenstaub. Vom Staube kommst du, und zu Staube sollst du wieder werden.

      Ich werde hier aber nicht zu Staub, hier ist es viel zu nass, ich werde wahrscheinlich zu Fischfutter. Auf der molekularen Ebene ist das aber egal. Für zwei Kohlenstoffatome aus meiner linken Wange ist es völlig unerheblich, ob sie einem Haifisch helfen, sein Lächeln hinzukriegen oder mir mein Verzweifeln. Da unten, in der Welt der kleinsten Teilchen ist alles egal. Die kennen nix, die kennen keine Verwandten, die haben nämlich keine. Die wissen auch nix, die kleinen molekularen Geräte, die funktionieren einfach nur.

      Warum ist unser Flieger denn eigentlich abgestürzt? Das lässt sich ganz einfach erklären und immer sind diese Drecksmoleküle daran beteiligt. Es ist so passiert: Durch den gewaltigen Eintrag von Kohlendioxid (Molekül) kommt es zur Erwärmung der Luft (Sauerstoff, Stickstoff – und andere Moleküle), die Luft überträgt ihre Wärme auf das Wasser (Molekül), das Wasser verdampft ab einer bestimmten Temperatur. Es verdampft natürlich nichts ahnend, was es demnächst anrichten wird. Es wird nämlich mit der warmen Luft nach oben in die kühlere Atmosphäre geschleudert und kondensiert dann dort oben wieder aus. Dabei wird Energie frei und die Wassermoleküle rasen weiter nach oben. Es bilden sich Gewitterwolken und weil die Temperaturunterschiede sich noch verstärken, werden die Luftmoleküle noch hemmungsloser und es gibt Sturm.

      Und genau in diesen molekularen Wirrwarr sind wir mit unserer schönen stromlinienförmigen Passagiermaschine hineingeraten.

      Das Flugzeug ist aber leider nicht so flexibel wie die Gasmoleküle. Es besteht nämlich aus Metall, und die Molekülverbindungen von Eisen, Kupfer, Aluminium und anderen Metallen sind eben leider eher spröde, dafür aber auch stabil genug, um einen oder 240 Sessel in der Luft zu halten. Der spröde, eigentlich stabile Zylinder aus Metall kommt in den Wirbel aus Gasmolekülen, gerät ins schlingern und stürzt ab.

      Aber wie gesagt, für die Moleküle ist es völlig egal, die gehen nicht so einfach kaputt. Also die kleineren Moleküle, die größeren Moleküle sind nicht ganz so unempfindlich.

      Ich bin so ein großes Sammelsurium von vielen, sehr empfindlichen Molekülen und deshalb bin auch so leicht zu zerstören. Überhaupt bin ich am Boden zerstört. Naja, Boden ist vielleicht doch das falsche Wort. Besser wäre „ins Wasser gefallen“, mein Leben ist ins Wasser gefallen. Und warum? Weil man mich immer wieder ins kalte Wasser gestoßen hat. Diese verdammte Optimierung! Junge, du musst viel besser werden, gut ist nicht gut genug, guck doch mal die anderen! Diese ewige Befehlsform, der Imperativ der Moderne lautet: Niemand kann so bleiben wie er ist, er muss sich verbessern und zwar endlos. Genauso endlos wie dieser Ozean. Hinterm Horizont geht es eben immer noch weiter. Das macht einen doch völlig fertig, wenn man nie mal fertig wird mit irgendwas. Man wird geschubst, gestoßen und gepushed. Dabei reicht es mir schon lange. Und genau deshalb reicht’s mir auch jetzt. Den Tod, den kann man nicht besser machen, da ist Feierabend. Aber noch ist ja nicht aller Tage Abend, obwohl, jetzt wird es wieder langsam dunkel, das Licht der Sonne bricht sich so schön ins Rote. Die Moleküle der Luft streuen das Licht, die Atmosphäre ist ein Lichtstreuer. Herrlich, also wunderbar, das gehört nämlich auch zur Welt: Die Strahlung, die elektromagnetische Strahlung. Ich lache mich kaputt, was hatte man sich da alles gedacht! Strahlung sei die Schwingung des Äthers. Jajaja, der Äther betäubt, der macht schläfrig. Man dachte doch tatsächlich, das Universum sei durchsetzt von einem Stoff namens „Äther“, und dessen Schwingungen würden sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Man muss sich das mal überlegen, Schwingungen eines Materials, die sich mit 300.000 Kilometer pro Sekunde ausbreiten. Was soll der Äther sein?

      Schwingungen vom Schall sind in Wasser schneller als in der Luft und noch schneller in Metallen. Wie starr hätte dann so ein Äther-Etwas sein müssen, um so schnell schwingen zu können? Und gleichzeitig drehen sich die Planeten um die Sonne und um ihre eigene Achse und merken nichts von diesem Äther? Alles Quatsch!

      Aber dann kam Albert und hat die Sache auf den Punkt gebracht. Es gibt etwas Absolutes! Von wegen Relativitätstheorie, völliger Blödsinn. Die Theorie von der absoluten Lichtgeschwindigkeit müsste diese Theorie heißen. Sie ist nämlich für alle immer gleich. Sie ist keine Größe in Verhältnissen, sie hat kein Verhältnis. Warum soll eine Lichtgeschwindigkeit denn auch ein Verhältnis haben? Jeder, bis auf Albert, dachte ja, die muss eins haben. Sie muss doch ins Verhältnis zu anderen Geschwindigkeiten gesetzt werden. Alles falsch. Die Lichtgeschwindigkeit ist die Königin, die absolute Nummer Eins, die unantastbare Eigenschaft des Vakuums.

      Aus dieser Theorie leitete Albert die Formel aller Formeln ab, die Mutter aller Formeln sozusagen: E = mc2.