Trost der Physik. Harald Lesch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Harald Lesch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783831257386
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Tod eines jeden, aber wirklich jeden Ausdrucks beraubt. Das Schicksal persönlich nimmt mir die Worte aus dem Mund. Man bedenke, dass höchstens ein paar Individuen nicht mehr fliegen wollen werden, weil man dabei zu Tode kommen kann. Das ist nichts Neues.

      Mein Selbstmord wäre ebenso nichts Neues gewesen, das haben schon viele gemacht. Und schließlich lernen die Menschen nun mal nur durch Wiederholung. Sicher – einmal ist keinmal. Dennoch kann ich meinen Ärger schlecht herunterschlucken. Vermutlich, selbst wenn ich es schaffe, mich in dieser lebensgefährlichen Situation selbst zu töten, und es die Nachwelt in Erfahrung bringt, selbst dann werden sie sagen, dass es diese ausweglose Situation war, die mich zu dem nachvollziehbaren Schritt trieb, denn mein sorgloses Leben kann es ja schlecht gewesen sein.

      Die Sonne steigt immer höher, die Erde dreht sich, die Zeit vergeht. Mir vergeht es auch.

      Ich sitze immer noch hier, fische kleine Tetrapacks mit teurem französischem Tafelwasser aus dem Atlantik, die wegen der ausladenden und verschwenderischen Kartonage nicht untergehen, weil Süßwasser weniger dicht ist als Salzwasser und weil Luft in der Packung nichts kostet.

      Ich sitze hier mit allen Gedanken, die sich auf dem Weg hierhin zwischen meinen beiden Ohren gesammelt haben. Mein Kopf fühlt sich an wie eine nicht ganz leere Milchpackung, die man unachtsam an einem warmen Tag in der Sonne hat stehen lassen. Möglicherweise übrigens mit ganz ähnlich chemischen Reaktionen wie in der Milchtüte. Fett ist Fett. Mein Kopf ist zwar nicht übermäßig groß, aber mein Hirn ist im wesentlichen Fett!

      Ich beneide den Herrn mit schütterem Haar, dessen mit Pseudosamt gepolsterter Sitz in der Morgensonne sich langsam immer tiefer in das Wasser bettet. Das kleine Tischchen für den Hintermann patscht in regelmäßigen Abständen auf den Wasserspiegel. Die Mulde für das Getränk aus den viel zu kleinen Bechern füllt sich, entleert sich wieder. Ich muss an Lagerfeuer denken, an das Züngeln der Flammen um einige Scheit Holz und in Alufolie eingewickelte Kartoffeln. Vermutlich der Schock. Es ist einfach irrelevant.

      Ich brauche mehr Zeit. Die Sonne brennt mir schon jetzt im Gesicht und meine Haut ist im Begriff, sich aufzulösen. Mein Rücken schmerzt.

      Fürs erste habe ich mich entschlossen, Trinkwasser auf dem Flügel zu sammeln, mir Zeit zu borgen. Verdursten ist schließlich kein schöner Tod. Da stehen sie, die kleinen bläulich schimmernden Tetrapack-Soldaten, sie reihen sich am anderen Ende der Tragfläche zum Angriff auf mein Selbstwertgefühl. Ich versuche es mit psychologischer Kriegsführung: Wenn ich viel Wasser gesammelt habe, irgendwann, dann erkennt die Nachwelt, dass ich mir wohl nicht nur absichtlich, sondern auch freiwillig, verfrüht mit den stumpfen Plastikmessern die Adern geöffnet habe. Die Nachwelt wird sich denken, wieso hat er denn das gute französische Tafelwasser nicht getrunken? So mancher Verdurstende hätte seine rechte Hand für einen guten Tropfen gegeben. Aber nein! Dieser Mann hat sich in Gegenwart mehrerer Portionen Hoffnung selbst getötet. Komisch, wird man denken, wir dachten immer die Hoffnung stirbt zuletzt. Er hätte wirklich noch abwarten können. So wird sie denken die Nachwelt, natürlich kopfschüttelnd, das heißt verneinend. Aber ich pfeife auf die Nachwelt, also ich würde gerne pfeifen, aber ich kann nicht mal mehr aus dem letzten Loch pfeifen, mir tut alles weh. Ich muss aus der Sonne. Ich brauche mehr Wasser, um meine Glaubwürdigkeit zu erhöhen.

      Noch darf kein Blut fließen. Leg dich hin. Deck dich zu mit zwei noch versiegelten Schlummerdecken aus brandfestem Material, dein Leichentuch, um nicht im Licht zu vergehen. Kraft sparen, Hitze ignorieren, Decke immer wieder lüften.

      Lachs im Schlafrock, auf Salzkruste.

      Jetzt bloß nicht einschlafen.

      Ach dieses Auf und Ab beruhigt mich ungemein. Wie ein Baby in den Armen seiner Mutter gleite ich dahin auf meinem zerrupften Metall-Kondor. Ich drifte irgendwohin und nirgendwohin. Alles scheint sich von mir wegzubewegen. Teile meines Körpers, der Schweiß und die Tränen. Schlafe ich? Wie lange wird es dauern, bis nur noch meine Tragfläche in Sichtweite ist? Wie lange noch, bis meine ganze Welt sich in dieser Bühne erschöpft und alles andere dort draußen abgedriftet oder untergegangen ist? Ich fühle keine Schwerkraft mehr, obwohl ich weiß, dass ich wegen ihr zum Liegen komme. Ich habe sie mir einfach weggedacht, unbewusst, als würde ich tauchen. Mein Flügel ist meine Erde, unsere Heimat, überschaubares Objekt im weiten, leeren Kosmos. Meine Welt expandiert in die Einsamkeit, und ich liege hier und führe Sitzkrieg gegen stilles Süßwasser.

      Die Gravitation hält mich unten, die elektromagnetische Kraft verhindert, dass ich gleich durch den Flügel hindurch in die Tiefsee falle, und die starke Kernkraft macht es meinen Atomkernen leider unmöglich, sich sofort in ihre Bestandteile aufzulösen.

      Ich stelle fest, wie stabil meine labile Lage hier zu sein scheint und ärgere mich ein weiteres Mal. Nicht aufgrund meiner Lage, sondern weil ich vergessen habe, was die schwache Kernkraft mit meiner Situation zu tun hat. Fällt es mir wieder ein?

      Ich könnte in diesem Dämmerzustand vermutlich einige Tage, Wochen, Monate driften – wenn kein Sturm aufzieht.

      Der Tod erscheint mir als einziges Nichts. Ich habe es nie geschafft zu glauben, deswegen bleibt er mir ein Nichts, ein unendliches Nichts ohne Zeit und Raum. In Anbetracht dessen bin ich ja noch so was von am Leben. Ich kann nicht aufhören, das Etwas um mich herum in meinen Kopf zu saugen, zu riechen, zu schmecken, zu sehen, die Sinneseindrücke in Objekte zu zerlegen und in Beziehung zu setzen. In meiner Lage neige ich zu nicht enden wollenden Gedankenfluchten. Vorgriffe in die Zukunft und wie sie wohl aussehen mag in meiner bescheidenen Welt.

      Obwohl es einfach so zu sein scheint, wie es ist, kommt es mir so schicksalsgeladen vor. Als würde ein Damoklesschwert über mir hängen, an einem Rosshaar, umgeben von bunt blinkenden, dicken Pfeilen mit Klimakillerglühbirnen. Ein verheißungsvolles Angebot, offeriert in einem handgeschöpften Umschlag, darin Seidenpapier, worauf zu lesen ist: „Um Ihrem sicheren Tode zu entrinnen, bedienen Sie sich einfach Ihres Verstandes.“

      Da kehrt Stille ein. Ich stelle fest: Noch bin ich nicht verrückt. Nur gibt es wenig Handlungsalternativen für einen halbwegs intelligenten Menschen in meiner Situation. Denkbar ist hingegen vieles.

      Seitdem der Mensch nicht mehr mit dem Überleben beschäftigt ist, denkt er über die Welt nach. Einem etwas komplexeren Gedanken über die Natur, der nicht gleich mit Überleben oder einer Handlungsinitiative verbunden ist, haftet etwas Erhabenes an. Er erhebt sich über den wilden dissonanten Chor der täglichen kognitiven Evolution und bekommt diesen gewissen güldenen Schein. Die Möglichkeit eines solchen Gedankens und die Unmöglichkeit der sofortigen Überprüfung steigern gerade die Attraktivität ihn hervorzubringen.

      Es ist uns in die Hirnchemie eingebrannt. Schon die Möglichkeit einer Lösung setzt bei uns Endorphine frei, sei das Problem real oder nicht. Wir hängen wie Junkies an der Spritze der Erkenntnis, auch wenn der Stoff gestreckt ist, bis er schäumt. Wir sind auf unserem intellektuellen Highway to Hell Richtung Stairway to Heaven unterwegs.

      Wenn ich nur Meer sehe, so sehe ich viel mehr: Atome, Moleküle, Flussgleichungen, Salzwasser, Osmose – darum darf ich’s nicht trinken, wie’s dahin gekommen ist, wo’s herkommt – und den Anfang unserer Art: Plankton, Photosynthese, Fusion, Supernovae, primordiale Nukleosynthese, Gravitationsinstabilitäten, kosmologische Phasenübergänge, Vakuumfluktuationen. Da sind sie wieder, die vier Grundkräfte: Starke und schwache Wechselwirkung, Elektromagnetismus und das große Ganze, die Gravitation.

      Tausende Jahre Kultur- und Wissensgeschichte spitzen sich zu, ich sehe alles vor mir. Ich kann es mir erklären, wie ich hier herkam. Anreißen, was alles notwendig war, um hier zu sein. Ich kann in meiner Erklärung meines Seins und dieser Umgebung, hier und jetzt, wortwörtlich ersaufen. Ich stehe auf den Schultern von Riesen. Wie bin ich hier gelandet? Jetzt mache ich erst mal Ordnung. Das hat mir immer geholfen: Ordnung schaffen mit Geisteswaffen. Auswählen, sortieren, entscheiden. Das macht frei.

       Kapitel 2 – Inventur

      Also los, machen wir Inventur. Ich hätte jetzt gerne den grauen Kittel des Lageristen in diesem Betrieb, wo ich als Student mal Praktikum gemacht habe. Dieser weise Alte, mit seinem ewigen Zigarrenstumpen; immer kalt und stinkend. Ich höre noch seinen Satz: „Na, junger Mann, zum ersten mal