Eine Liebesgeschichte mit dem Leben
Der Akt, unseren Platz in unserem eigenen Leben oder, anders gesagt, eine bestimmte Haltung einzunehmen, und das immer wieder, ist schon an und für sich ein tiefgreifender Ausdruck menschlicher Intelligenz. Letztendlich ist es ein radikaler Akt der Vernunft und der Liebe – wenn wir nämlich all das Tun sein lassen, das uns durch den jeweiligen Augenblick trägt, ohne dass wir uns wirklich darin niederlassen, und ins Sein sinken, sei es auch nur für einen flüchtigen Moment. Dieses Hineinsinken ist der überaus einfache und zugleich auch absolut radikale Akt, der Achtsamkeit als Meditationspraxis und auch als Seinsweise ausmacht. Es ist einfach zu erlernen. Es ist einfach, es zu tun. Aber genauso leicht passiert es, dass man die Praxis vergisst, auch wenn diese Art von Hineinsinken so gut wie gar keine Zeit erfordert, sondern lediglich, sich daran zu erinnern.
Zum Glück interessieren sich immer mehr Menschen für ein solche Intimität mit dem eigenen Bewusstsein und dessen Kultivierung in der ein oder anderen Form, sodass sie langsam einen Weg in die verschiedensten Bereiche der Gesellschaft findet: von Schulkindern bis zu Senioren, von Akademikern bis zu Geschäftsleuten, von Ingenieuren bis zu Aktivisten, von Studenten bis zu – ob Sie es glauben oder nicht – Politikern und Sportlern aller Ränge. Und zum größten Teil ist Achtsamkeitspraxis dabei nicht Luxus oder Modeerscheinung, sondern wird in dem wachsenden Verständnis kultiviert, dass diese Qualität eine absolute Notwendigkeit ist, um das Leben in aller Fülle und mit Integrität zu leben. Man könnte auch sagen, um es auf ethische Weise zu leben, angesichts der sich deutlich abzeichnenden Herausforderungen, mit denen wir alle jeden Tag konfrontiert sind, sowie auch angesichts der ebenfalls enormen und faszinierenden Gelegenheiten und Möglichkeiten, die uns in dieser Zeit offenstehen. Dazu müssen wir zumindest einen Moment lang in der Lage sein, die selbst konstruierten und gewohnheitsmäßigen Einschränkungen unseres Geistes, die Geschichten, die wir uns selbst erzählen und die nicht oder nicht ganz wahr sind, sowie unsere epidemische Blindheit zu durchschauen und hinter uns zu lassen. Dieses Unterfangen ist letztlich ein einziges großes und bedeutungsvolles Abenteuer – voller Höhen und Tiefen, genau wie das Leben selbst. Doch die Art und Weise, wie wir mit diesen Höhen und Tiefen umgehen, wird entscheidend dafür sein, wie dieses Abenteuer, das Abenteuer unseres Lebens, sich entfaltet. Und dabei haben wir viel mehr Einflussmöglichkeiten, als wir vielleicht ahnen.
Es gibt viele verschiedene Wege, mittels einer formalen Meditationspraxis, aber auch im Alltags- und Arbeitsleben Achtsamkeit zu kultivieren. Wie Sie sehen werden, kann formale Meditation in den verschiedensten Haltungen praktiziert werden: im Sitzen, Liegen, Stehen oder Gehen. Und das, was wir „informelle Meditationspraxis“ nennen – letzten Endes die wahre Meditationspraxis –, bedeutet, das Leben selbst und die Meditationspraxis eins werden zu lassen und zu erkennen, dass alles, was darin auftaucht, das Erwünschte, das Unerwünschte und auch das Unbemerkte, den eigentlichen Lehrplan ausmacht. Wenn wir Meditation in einem so weiten Sinne verstehen, ist alles, was sich in unserem Geist, unserem Leben oder in der Welt zeigt, Teil davon, und jeder Moment ist ein perfekter Moment, um Bewusstheit in das zu bringen, was sich entfaltet, und daran zu lernen, zu wachsen und zu heilen.
Das Wichtigste ist, dass Sie mit der Zeit Ihren eigenen, authentischen Praxisweg finden, einen Weg, der sich intuitiv richtig und vertrauenswürdig anfühlt, der für Sie persönlich stimmig ist, aber auch noch mit der Essenz der alten Traditionen im Einklang steht, aus denen die Achtsamkeitspraxis hervorgegangen ist. Genau dabei soll dieses Buch Ihnen helfen, oder zumindest dabei, zu diesem lebenslangen Abenteuer aufzubrechen. Sie werden lernen, wie Sie eine tägliche Achtsamkeitspraxis entwickeln können, falls das etwas Neues für Sie ist, beziehungsweise Ihre Praxis zu vertiefen, falls Sie bereits eine haben. In beiden Fällen werden Sie lernen, sie als eine Liebesbeziehung zu betrachten statt als Aufgabe oder Bürde, ein weiteres „Sollte“, das Sie in Ihrem ohnehin schon viel zu vollen Tag unterbringen müssen. Was letztendlich dazu führt, dass Sie das Leben, das Ihnen gegeben wurde, im tiefsten Sinne bewohnen. Wie jahrzehntelange Forschungen gezeigt haben, kann Achtsamkeit im Laufe des Lebens zu einem machtvollen Verbündeten werden, wenn wir mit Herausforderungen wie Stress, Schmerz und Krankheit umgehen müssen.
Tun und Nichttun
Manchmal kann achtsam sein bedeuten, dass wir etwas tun. Und manchmal sieht es aus, als täten wir nichts. Von außen betrachtet, lässt sich das nur schwer sagen. Doch auch wenn es so aussieht oder sich so anfühlt, als täten wir nichts, ist es nicht so. Tatsächlich geht es gar nicht um irgendein Tun. Das mag sich ein wenig verrückt anhören, aber Achtsamkeitsmeditation ist eher eine Frage des Nichttuns, vielmehr davon, sich einfach ins Sein sinken zu lassen, in den einzigen Moment, den wir überhaupt haben – diesen einen Moment –, als davon, etwas zu tun oder irgendwohin zu gelangen. So, wie Sie in jedem beliebigen Moment sind und wo auch immer Sie sind, ist es gut genug, zumindest für jetzt. Es ist sogar perfekt, wenn Sie bereit sind, den Moment im Gewahrsein zu halten und dabei sanft mit sich umzugehen, ohne etwas zu erzwingen.
Die regelmäßige Praxis der Achtsamkeitsmeditation hilft uns, zu der inneren Weite und dem offenen Herzen Zugang zu finden, die reines Gewahrsein ausmachen, und dies darin zum Ausdruck zu bringen, wie wir in der Welt handeln. Achtsamkeit als regelmäßige Praxis kann Ihnen wortwörtlich und auch sinnbildlich Ihr Leben zurückgeben, insbesondere wenn Sie Stress oder Schmerzen haben oder in Ungewissheit und emotionalem Aufruhr gefangen sind – was natürlich auf uns alle bis zu einem gewissen Grad in manchen Momenten oder Situationen zutrifft.
Auch wenn Achtsamkeit gerade im Trend liegt und sehr populär, zuweilen auch verrufen sein mag, ist sie doch vor allem eine Praxis, und zwar mitunter eine mühselige. Für die meisten Menschen bedeutet dies, dass sie sie absichtsvoll und beständig kultivieren müssen. Dies geschieht schlicht und einfach durch die regelmäßige, disziplinierte Praxis der Meditation. Und einfach ist sie wirklich, wenn auch nicht immer leicht. Aber sie ist den Einsatz wert. Es lohnt sich, die Zeit und die Energie zu investieren. Sie ist heilsam, und sie kann sehr transformativ sein. Das ist einer der Gründe, weswegen Menschen oft sagen, die Praxis der Achtsamkeit habe ihnen ihr „Leben zurückgegeben“.
Achtsamkeit erobert den Mainstream
Es gibt viele verschiedene Ursachen, warum die Meditationspraxis und insbesondere die Achtsamkeitsmeditation in den letzten vierzig Jahren immer mehr im Mainstream angekommen ist. Zum einen ist das der Arbeit des stetig weiterwachsenden, weltweiten Kreises von Kollegen zu verdanken, dem anzugehören ich das Privileg habe. Ich unterrichte MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction, Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion), ein Programm, das ich 1979 am Medical Center der University of Massachusetts entwickelt und eingeführt habe. Inspiriert durch MBSR, wurden in den darauffolgenden Jahren weitere achtsamkeitsbasierte Praktiken entwickelt und wissenschaftlich beforscht, wie etwa MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy) zur Anwendung bei Depressionen sowie andere spezialisierte Programme in Anlehnung an MBSR, deren Nutzen und Effektivität inzwischen in zahlreichen wissenschaftlichen Studien belegt werden konnte.*
Die ursprüngliche Absicht von MBSR in Form eines achtwöchigen ambulanten Kurses bestand darin zu überprüfen, welchen Nutzen Achtsamkeitstraining potenziell dafür haben kann, das mit Stress, Schmerzen und Krankheit einhergehende Leid von Patienten mit chronischen Erkrankungen zu lindern, die nicht auf die medizinischen Standardbehandlungen ansprechen und daher durch das Raster des regulären Gesundheitssystems fallen. MBSR sollte eine Art Sicherheitsnetz sein, das die Menschen in solchen Fällen auffangen und sie dazu auffordern würde, etwas für sich selbst zu tun und daran mitzuwirken, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu verbessern. MBSR war nicht als eine neue medizinische Behandlung oder eine Therapieform gedacht. Vielmehr sollte es eine gesundheitsfördernde edukative Maßnahme sein, die im Laufe der Zeit und durch die Teilnahme von immer mehr Menschen das Potenzial haben könnte, für mehr Gesundheit, Wohlbefinden und Weisheit